Die Zeit ist reif. Es ist wieder Kirschblüte, das Zeichen für Vergänglichkeit. Anlässlich des deutschen Atomausstiegs vor einem Jahr hat der NDR “Atomkraft Forever” erneut gesendet, die SWR-Doku aus dem März 2023 zum Danach des Ausstiegs: Atommüll ist das Zeichen für Unvergänglichkeit.
Und nicht zuletzt hat die Europäische Atomallianz vor einem guten Monat in Paris zu ihrem ersten Geburtstag erklärt, die Arbeit für die Anerkennung der Rolle intensivieren zu wollen, die die Atomergie bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft und einer “offenen strategischen Autonomie” Europas spiele. Mitglieder der “EU Nuclear Alliance” sind (jeweils dahinter die Zahl der AKW in Betrieb 2022 laut Österreichischem Umweltministerium): Belgien (2), Bulgarien (2), Kroatien (½), Tschechische Republik (6), Estland (0), Finnland (5), Frankreich (56, 1 weiteres im Bau), Ungarn (4), Niederlande (1), Polen (0), Rumänien (2), Slovenien (½), Slowakei (5, 1 weiteres im Bau) und Schweden (6) sowie UK (10) als hinzugeladen und Italien (0) als Beobachter. Alle häufen ständig weiteren Atommüll an. Kein Land der Welt hat eine Lösung für die Endlagerung von hoch-radioaktivem Müll.
Zeit daran zu erinnern, dass Atomenergie schon vor 30 Jahren keine Zukunft mehr hatte. Der Atommüll jedoch mehr davon, als Menschen vorstellbar ist.
Die Kirschblüte und der (Atom-)Müll ist ein Radiobeitrag aus dem Jahr 1993 auf dem damaligen SFB 3 (Sender Freies Berlin), den ich im März 2012 zum Gedenken an den ersten Jahrestag von Fukushima digitalisiert und hochgeladen habe. Siehe dort für das vollständige Manuskript und hier direkt zur Sendung:
Die Kirschblüte und der Müll, SFB3, 1993 (MP3, 58:46)
Für die Recherche zur Sendung sind wir damals nach Rokkasho gereist, an den nördlichsten, wie eine Axt geformten Zipfel der Hauptinsel Japans. In diesem dünn besiedelten Gebiet baut das Land seinen ‘Atompark’. Zeit also, zumindest aus der Ferne zu schauen, wie es heute, 30 Jahre später um Rokkasho steht.
1971 war beschlossen worden, in Rokkasho ein petrochemisches Kombinat zu errichten. Die Industrie kaufte Ackerland und erschloss es mit Straßen. Dann kam die Ölkrise 1973. Die Ölpläne wurden aufgegeben. Die japanische Regierung richtete ihre Energiepolitik maximal auf AKWs aus. Doch auch der Atombrennstoff muß importiert werden. Und die abgebrannten Brennstäbe schickt Japan, genauso wie andere Länder, zur Wiederaufarbeitung nach Sellafield in England und LaHague in Frankreich.
Um Uran und Plutonium zu einer, wie es heißt, “quasi-domestischen” Energiequelle zu machen, brauche Japan eine eigene Anreicherung, Aufarbeitung, einen Fusionsreaktor und ein Endlager – den vollen “Kreislauf”, so die nationale Vision. Ein Großkomplex, bei dem Ärger mit der Bevölkerung vorauszusehen war. Doch praktischerweise gab es in Rokkasho ein schon halb-erschlossenes Industriegebiet. Der Bau des “Atomkreislaufs” begann 1988.
1993 liefen in Japan 42 AKWs und produzierten etwa ein Drittel der Elektrizität des Landes. Kurz vor unserem Besuch hatte im April 1993 die Grundsteinlegung für die Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) stattgefunden. Geplant war, sie 1999 in Betrieb zu nehmen. Das ist bis heute nicht gelungen.
Eine Uran-Anreicherungsanlage war schon 1992 in Betrieb gegangen. Ebenso das Endlager für schwach-radioaktiven Müll und die Fertigungsanlage für MOX (Plutonium-Uran-Mischoxid-Brennstoff). Das Eingangslager der WAA wurde 1997 in Betrieb genommen. Hier soll der hoch-radioaktive Müll aus LaHague und Sellafield zunächst 50 Jahre ‘abkühlen’. Bis dann, hofft man, ist eine ‘endgültige’ Lösung dafür gefunden.
Die Arbeit an Japans Schnellem Brüter in Monju (Präfektur Fukui) hatte schon 1983 begonnen. 1994 wurde der Fusionsreaktor in Betrieb genommen, was kurz darauf zu einem schweren Unfall führte. Anhaltende technische Probleme verhinderten ein Wiederaufnahme des Testbetriebs bis 2010. Der führte gleich wieder zu einem schweren Unfall. Die Aufsichtsbehörde untersagte 2013 eine Wiederinbetriebnahme. 2018 genehmigte sie den Abriss oder vielmehr “Rückbau”. Der soll mindestens 30 Jahre dauern und mindestens 2,3 Mrd. Euro kosten.
Die japanischen Regierung hatte Rokkasho als Standort für den geplanten internationalen experimentellen Fusionsreaktor ITER vorgeschlagen. Im Juni 2005 wurde jedoch entschieden, ITER im französischen Cadarache zu bauen. 35 Länder sind daran beteiligt, darunter China, Russland und die USA. Auch beim ITER ist bereits klar, dass er aufgrund von technischen Problemen nicht wie geplant 2035 fertig wird.
Ohne Brüter jedoch ist Plutonium keine Energierohstoff, sondern der gefährlichste Müll, den der Mensch je hergestellt hat. Ohne das Versprechen, aus Plutonium in einem sonnengleichen Plasma Energie zu schlagen – und es dabei sogar noch zu vermehren! – endet der vermeintliche Kreislauf in den überquellenden Abklingbecken dieser Welt.
Oder es ist Rohstoff für Atombomben. Seit 2006 wird im Testbetrieb der WAA bereits aus abgebrannten Brennstäben das Plutonium und das restliche unverbrannte U-235 gewonnen, um daraus Mischoxidbrennstoff (MOX) zu produzieren, das in konventionellen AKWs verwendet werden kann. Wie die Atombombengefahr gebannt werden soll erläutert das Betreiberunternehmen Japan Nuclear Fuel Limited (JNFL):
“Um das Proliferationsrisiko zu verringern, wurde in der Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho die Plutonium-Uran-Co-Extraktionstechnologie eingeführt, bei der das zurückgewonnene Uran mit dem abgetrennten Plutonium vor der Denitrierung kombiniert wird. Durch dieses Verfahren wird das Plutonium am Ende des Prozesses als Uran-Plutonium-Mischoxid (MOX) zurückgewonnen, so dass das Plutonium niemals allein zurückgewonnen wird.” (JNFL: Reprocessing)
Auf derselben Webseite, die auch die lange Chronologie der Probleme mit Wasserlecks und bei der Vitrifizierung enthält, nennt JNFL, datiert vom 31. März 2024, als “frühest möglichen Zeitpunkt” für den Abschluss der 1993 begonnenen Bauarbeiten an der WAA die erste Hälfte des Fiskaljahres 2024 (April-September 2024).
1993 hatte Japan, anders als die USA und Russland, noch keinen großen Atomunfall erlebt. Das änderte sich 2011 mit der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Bei allen Atomanlagen wurden die Sicherheitsmaßnahmen überprüft und verschärft.
Die aktuellste Hochglanzbroschüre von Rokkasho und dem Atomkreislauf aus dem Jahr 2022 trägt den Titel “Challenge the Future”, also “Die Zukunft herausfordern”. Treffender könnte das Atomprogramm kaum benannt werden: Es bürdet allen vorstellbaren zukünftigen Generationen ein Herausforderung auf, an der die aktuelle gescheitert ist.
Nach 30 Jahren Sicherheitsproblemen, rechtlicher Anfechtungen, Projektverzögerungen und explodierender Kosten wäre das einzig Sinnvolle, die ganze Anlage stillzulegen. Doch dafür haben die Regierung in Tokyo und die lokale zu viel investiert. Mehrere Zehn Milliarden Euro sind in die Präfektur geflossen, die einige der Gemeinden buchstäblich am Leben erhalten haben. Über sechs Jahrzehnte hat sich Japans Atomkreislaufpolitik, wie Yuichiro Amekawa (2023) analysiert, von einer Besessenheit vom unerfüllten Versprechen nationaler Energiesicherheit entickelt zu einem System der Selbsterhaltung auf Kosten des öffentlichen Wohls. Außerdem müssten die Energieversorger dann die abgebrannten Brennelemente, die derzeit in dem fast vollen Lagerbecken von Rokkasho liegen, zurücknehmen (The Diplomat, 18.04.2016). Der Entsorgungsstau würde zum Infarkt des gesamten japanischen Atomprogramms führen.
Im Bulletin of the Atomic Scientists erläutert Tatsujiro Suzuki, Vizedirector des Research Center for Nuclear Weapons Abolition an der Nagasaki Universität, die Gründe für die Verzögerungen und für das Festhalten der japanischen Regierung an der Wiederaufarbeitung und an den Plutoniumstau: etwa 36,7 Tonnen in Wiederaufarbeitungsanlagen in Europa und 10,5 Tonnen aus eigener Produktion, die für einen Schnellen Brüter angehäuft wurden, der nicht kommen wird. Schließlich empfiehlt er ziemlich unverholen, Rokkasho stillzulegen (Rokkasho redux: Japan’s never-ending reprocessing saga, 26.12.2023).
Und wie sieht es in Deutschland nach dem Ausstieg aus? Strommangel bis zu Blackouts, ein Kältewinter, Preisexplosion, der Zusammenbruch der Wirtschaft – was wurde nicht alles an die Wand gemalt. Wie Putin schon 2010, fragten sich viele, was mit den Deutschen los sei: “Atom wollen sie nicht, Gas wollen sie nicht. Wollen sie wieder mit Holz heizen? Aber selbst dafür müssen Sie nach Russland kommen.” (Wikiquote). Tatsächlich sind die von der Bild angeheizten Horrorszenarien ausgeblieben. Deutschland kommt sehr gut mit Sonne, Wind und dem europäischen Strommarkt zurecht. Niemand vermisst Atomkraft (taz, 14.04.2024).
Wie unser gesamtes Müll-System ist der “Atomkreislauf” eine Sackgasse, deren Ende erst in tausenden Jahren erreicht sein wird. Der Blick um zehntausend Jahre zurückt verheißt nichts Gutes. Bei den Fundamentausgrabungen für die WAA in Rokkasho tauchten archäologische Funde aus der Jômon-Zeit auf. Doch die bislang reichste Fundstätte aus dem Leben des Ur-Japaners hastig beiseite geschafft. Schließlich ging es ja darum, die Zukunft herauszufordern.
“Die Erde vergißt nicht. Der Mensch schon.”