"Allein, aber nicht einsam" – die otaku-Generation

“Allein, aber nicht einsam” – die otaku-Generation

Zu einigen neueren Trends in der japanischen Populär- und Medienkultur1

Volker Grassmuck

in: Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium, Wilhelm Fink Verlag, München 1993

 

“Information ist Information und nicht Materie oder Energie” (Norbert Wiener) “… und nicht Geist oder Subjektivität.” (Gotthard Günther)

“Die Farbe in der Malerei und das Erzählen im Film, das ist beides so beliebig geworden, daß ich andere Mittel brauche, um das Material zu organisieren, Systeme, die abgeschlossen sind, an die man glauben kann. Zahlen, Buchstaben, Abstraktionen. Nehmen Sie mein Lieblingsbeispiel mit dem Lexikon: unter ‘H’ stehen happiness, Hitler, his Holiness, heaven und hell… das Lexikon ist der einzige Ort auf Erden, wo diese völlig verschiedenen Sachen zusammentreffen. Wie absurd – und wie notwendig! Denn auf diese Weise organisieren wir die Masse an Informationen, die von allen Seiten auf uns einstürzen.” (Peter Greenaway, ZEIT 25.11.88)

“Beautiful Communication” (Werbeslogan von NEC)

Wirklichkeit ist die Welt, wie sie uns erscheint. Die Welt erscheint uns in zunehmendem Maße über technische Medien.

Für die Moderne war die ‘wahre’ Wirklichkeit die Welt hinter den Erscheinungen, die Welt wie sie im Scheinwerferlicht der Illumination, entschleiert, auf ihr wahres Wissen hin befragbar geschaffen wurde. Um das Streben nach einer solchen ‘wahren’ Wirklichkeit organisiert sich Der Mensch, das Subjekt der Geschichte.

Heute, angesichts einer neuen Scheinhaftigkeit, die an die Stelle der Erleuchtung das Nachleuchten eines Kathodenstrahls setzt, wird dieser Mensch verabschiedet. Das humanistische Ideal eines Aktors, der seine Welt in stets zunehmendem Umfang kennt und versteht und entsprechend rational seine Ziele verfolgt, wird unhaltbar. Die Rede ist von einem technisch defizienten Subjekt, dem “Medieneffekt einer Erschütterung, die mit einer Depersonalisierung oder Derealisierung des Erlebens, nach manchen Befunden sogar mit einer Psychotisierung des Verhaltens einhergeht”, von einer “kommunikativen Entsubjektivierung”.2

In der Theorie erscheinen als Reaktion auf diese Lage zwei große Bewegungen:

Das Große Verschwinden – der ersten Natur in der zweiten und der zweiten in der dritten, der Ideologien (Daniel Bell) oder der Meta-Narrative (Lyotard), der Schriftlichkeit (McLuhan), der Materialität in der Information3, der Wirklichkeit schlechthin in der Simulation (Baudrillard), der Ordnung im Chaos, des Akteurs in der Trägheit (Virilio), der Dimensionen in der Null-Dimensionalität (Flusser), des Körpers in der medialen Kommunikation, der Differenz, usw.4

Die Große Wiederkehr – des Körpers (Kamper/Wulf), der Sinne, speziell des Ohrs, der Mannigfaltigkeit, der Einheit des zerstückelten Wissens auf neuer Synthesestufe,5 der Kreativität,6 der Ordnung im Chaos (der Chaos-Theorie), des Ereignisses in der Katastrophe (Virilio), der Oralität (McLuhan), der Differenz, usw.

Es geht um Verabschiedungen und Rückbindungen. Etwas ist zuende gegangen, auch wenn sich hinter der einen oder anderen Wiederkehr eine Fortschreibung des alten Projekts auf neuer Stufe zu verbergen scheint. Gerade wenn die Theorie von den Chancen und neuen Möglichkeiten der Medien – also utopisch – spricht, drängt sich die Frage auf, ob nicht ein Rettungsversuch Des Menschen unternommen werden soll, ob nicht die humanistische Sehnsucht nach dem ganzheitlichen Renaissance-Menschen, nach einer konsistenten Identität am liebsten alle Analysen über die vernichtende Wirkung der Medien Lügen strafen würde. Leben ohne konsistente Identität, die sich in der Zeit durchhält, wie sollten wir uns das auch vorstellen?

Der Blick geht nach Japan, einem Land, das die technologische Moderne gemeistert hat, ohne von der geistesgeschichtlichen Moderne tiefgreifend infiziert worden zu sein; das seit seiner Entdeckung für den Westen eine Projektionsfläche für eine subjektfreie Gesellschaft und Ästhetik geliefert hat. Während sich der Westen noch damit abplagt, zu verstehen, was er (der Mensch) sich mit seinem Projekt angetan hat, ist Japan über die wenigen Jahrzehnte Orientierung auf eine fremde Moderne hinaus.7 Die industrielle Moderne und die äußeren Zeichen der politischen Moderne – Mehrparteien-Demokratie, formale Pressefreiheit usw. – sind da, werden pragmatisch gehandhabt (inklusive regelmäßiger ‘Skandale’), von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen, beschäftigen aber auch nur wenige auf theoretischem Niveau. Auch die Ideen-Moderne und von da aus die Auseinandersetzung mit der Postmoderne ist für etablierte Intellektuelle selbstverständliches Thema, im Sinne eines nachholenden und reproduzierenden Anknüpfens an die jeweiligen westlichen Diskurse. Dieses Anknüpfen bleibt auf eigentümliche Weise äußerlich, so daß die Vermutung schwer von der Hand zu weisen ist, daß auch hier Japan sich nicht grundsätzlich in Frage stellt.

Gleichzeitig wächst heute eine Generation heran, die die Notwendigkeit eines solchen Anknüpfens an den Westen nicht mehr verspürt. Westliche Kultur ist für sie in Japan immer schon präsent gewesen. Die Welt, wie sie sie kennen, war schon immer gesättigt mit Medien und Information. Sie stellen sich neue Fragen.

Fragen, die nicht auf eine ‘Wahrheit’ gehen, sondern sich gemäß unserer Ausgangsthese ‘Wirklichkeit ist die Welt, wie sie uns erscheint’ auf Oberflächen und Interfaces richten. Diesseits – oder jenseits – der Groß-Analysen fragen sie sich und wir uns, was für Strategien gangbar zu machen sind, sich in der Medienlandschaft einzurichten; wie eine Ich-Organisation in der zerstreuenden, schnellebigen, provisorischen Welt der Konsum- und Informationsgesellschaft zu bewerkstelligen ist.

Die Einheit der Wahrnehmung der Welt läßt sich auch anders herstellen, z.B. alphabetisch, nach dem Vorschlag Greenaways aus dem Motto. Eine weitere Strategien, mit Information Overload und Langeweile8 umzugehen, ist die radikale Beschränkung.

Otaku sind gut-informierte Snobs. Sie verfügen über jegliche Information, aber sie ‘bedeutet’ nichts und wird nur zum Prahlen verwendet – so haben sie es in ihrer Sozialisation in der ‘Bildungsgang-Gesellschaft’ mit ihren ‘Prüfungshöllen’ gelernt, die bereits mit Paukschulen für die Aufnahmeprüfungen angesehener Kindergärten ansetzt. Information ist Fetisch. Sie ist gleich-gültig, weil jederzeit durch das Immer-Neue ersetzbar. Aus dem ständig wechselnden Strom wählen die otaku arbiträr ein Informations-Segment aus, das sie – einmal entschieden – mit radikaler Ausschließlichkeit verfolgen. Sie wollen Kontrolle wenigstens über einen kleinen Teil der Welt, in dem es trotz der überwältigenden Informationsflut möglich ist, alles zu wissen, auf alles vorbereitet zu sein, sich sicher zu fühlen.

Die gewählten Gegenstandsbereiche sind trivial: Idols (die synthetischen Stars der Musikindustrie), Computer-Spiele, Comic-Bücher, Modellbausätze, Technik allgemeinen und speziell Computer. Otaku hat nichts mit einem bestimmten Thema zu tun, es ist vielmehr eine Seinsweise in der Information.

Es gibt Zeitschriften, die sich an otaku richten, Messen, Pornographie, Videos, Computer-Netze, und es gibt das “Buch der otaku“.9 Nach einer Schätzung des Herausgebers von “Do-Pe”, einer der kommerziellen otaku-Zeitschriften, gibt es einen harten Kern von 350.000 von ihnen, aber, sagt er, wie viele ‘gemäßigte otaku‘ es gibt, kann niemand sagen. Nach einer anderen These sind alle Japaner otaku.

Otaku verabscheuen physischen Kontakt und lieben Medien, Technik und das Reich der Reproduktion und Simulation im allgemeinen. Sie reden nicht miteinander, sie ‘kommunizieren’. Sie sind begeisterte Sammler und Verarbeiter von nutzlosen Artefakten und Informationen. Sie sind ein Untergrund, aber keine Gegner des Systems. Sie verändern, manipulieren und untergraben das System der Fertigprodukte, und zugleich sind sie die Apotheose der Konsumkultur und ideale Arbeitskräfte des gegenwärtigen japanischen Kapitalismus. Sie sind die Kinder der Medien.

Exkurs(ion): Komiketto

Eine der seltenen Gelegenheiten, zu der die scheuen und ungeselligen otaku zusammenkommen, ist die komi-ketto (von engl.: “comic market”10). Sie wurde erstmals 1975 als eine Börse für nicht- kommerzielle Comic-Magazine veranstaltet. Zweimal im Jahr (im August und Dezember) präsentieren und verkaufen hier für je zwei Tage Zirkel ihre manga-dôjinshi (Comic-Zirkel-Zeitschriften). 1990 hatten sich 13.000 Zirkel angemeldet, 1991 waren es bereits 39.000. Die Besucherzahlen beliefen sich 1990 auf ca. 250.000, 1991 waren es 300.000. Autismus und Masse schließen sich nicht aus, sind vielmehr komplementär.

Die Otaku-Zeitschriften erscheinen in meist geringen Auflagen im Selbstverlag. Die beliebteren können sich in ihren Verkaufszahlen durchaus mit kommerziellen manga (Comic Bücher) messen. Veranstaltungsort sind Messeglände, auf denen sonst Industrie- und Konsumenten-Messen oder große Konferenzen stattfinden.

Im folgenden einige Impressionen von der komiketto Nr. 39 (23.-24.12.90 in Makuhari Messe, Chiba) und der komiketto Nr. 40 (16.-17.8.91, Harumi Messe, Tôkyô).

Viele stehen bereits seit Stunden an, als um zehn Uhr die Besucher eingelassen werden. Die meisten sind in der Altersgruppe zwischen zwölf und zwanzig. Statt einfach die Tore aufzumachen (der Eintritt ist kostenlos), falten Ordner mit Megaphonen den Menschenstrom in zwei ungenutzten Hallen in Viererreihen, lassen die zehntausenden Jugendlichen immer wieder anhalten, warten. Einmal drinnen werden sie aufgefordert, nicht zu rennen, die Messehallen nur durch die ausgeschilderten Eingänge zu betreten, vor dem Photographieren um Erlaubnis zu fragen etc. Die komiketto ist überorganisiert, wie jeder öffentliche Raum in Japan.

Die Masse verteilt sich auf fünf Messehallen, angefüllt mit endlosen Reihen von Tischen, hinter jeder die Vertreter eines Zirkels. Viele der Jugendlichen sind am Zeichnen und man kann zusehen, wie die Comics entstehen, die sie verkaufen. Bei vielen Besuchern zeugen die Büschel von Lesezeichen im komiketto-Katalog davon, daß sie sich bestens vorbereitet haben und jetzt gezielt ihre Lieblings-Magazine ansteuern. Alle zum Verkauf ausgestellten Druckwerke enthalten Comics, einige darüberhinaus Erzählungen, andere, z.B. die von Auto- oder Militaria-otaku, auch Photos. Hier und da stehen auf den Tischen Plastikmodelle von Idols oder manga-Figuren.

Die Tischreihen entsprechen grob den verschiedenen otaku-Genres: Figuren aus Animationen, Fernsehserien oder Famicon-Spielen (“Family Computer”), Idols, japanische und westliche Pop-Musikgruppen, Sport (Pferderennen, Baseball, Sumo etc.), Science Fiction. Es gibt auch literarisch-künstlerisch orientierte Zirkel, die sich von klassisch chinesischen Themen, Samurai-Dramen oder Michael Endes “Momo” inspirieren lassen.

Große Blöcke sind Mutationen von einzelnen kommerziellen manga-Helden gewidmet. überall sieht man hier die gleichen, mehr oder weniger gut kopierten oder originell variierten Charaktere wie Seiya, Maôden, Wataru, Dragon Ball oder den Fußballspieler C(aptain) Tsubasa.

Hinter torûpaa verbergen sich Militär-Liebhaber, die in den Uniformen von SF-Soldaten, der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte oder der deutschen SS entsprechende Magazine zum Besten geben.

In der Computer-Sektion finden sich Leute, die Zeichnungen mit dem NEC PC 9800 erstellen und sie als Dia-Show oder als Rollen- und Adventure-Games auf Disketten verkaufen. Die Maschinenwelt ist deutlich männlich, die abgespeicherten Motive vorwiegend leichtbekleidete Mädchen.

Besondere Attraktionen sind die kosu-purei (costume plays), bei denen Charaktere und Posen aus beliebten Animationen, Computerspielen und manga nachgestellt werden. Mit aufwendigen Kostümen aus Stoff, Pappe und Plastik verwandeln sich die otaku in über-niedliche manga-Püppchen, Traumhelden, Roboter, Ritter, SF-Samurai, Soldaten und Polizisten. Wenn sie sich gegenseitig um ein Photo bitten, kommt es zu ähnlich irrealen Begegnungen wie in Hollywood-Studios während der Mittagspause.

In der ersten Halle sind Tische nur an einer Längsseite aufgebaut, der Rest ist angefüllt mit schlangestehenden Mädchen. Hier werden von Paletten herunter die Bestseller verkauft, die von den Organisatoren separat plaziert worden sind, da die Schlangen andernfalls die Gänge blockieren würden. In der Schlange herrscht Stillschweigen. Die meisten stehen alleine geduldig an, blättern in bereits ergatterten manga oder im Katalog, fächeln und schwitzen still vor sich hin. Viele übergewichtige Mädchen, rosa Wuschelöhrchen auf dem Kopf, scheue Rehblicke. Eine Stunde oder mehr warten sie und geben dann 100 – 150 DM aus. Ich sehe Leute mit Rollwägelchen voll manga im Wert von mehreren tausend Mark.

Hier gibt es ausschließlich Comics über Liebesgeschichten zwischen hübschen Jungs. Herstellerinnen und Käuferinnen sind Mädchen. Warum das so ist, frage ich eine Verkäuferin. “Die Frau, die die gezeichnet hat, ist gerade nicht da.” Ich meine nicht speziell diese, sondern das ganze Genre. “Mädchen mögen eben Homosexuelle. Warum, weiß ich auch nicht.”

In einer anderen Halle sehe ich auf einigen Zeitschriften deutsche Texte. Ich nehme eine und ein Mädchen fragt mich “Kennst du die?” Ich sehe Reihen von Bildern von Sportlern, Leichtathleten aus der DDR, wie mir hinterher jemand erklärt. “Nein, keinen einzigen”. Sie: “Kennst du nicht? Tja, dann auf Widersehen!” Kommunikation über das jeweilige otaku-Fachgebiet hinaus findet nicht statt, kein Small-talk. Abrupter Abbruch des Gesprächs.

An einem anderen Tisch steht eine junge Frau in SS-Uniform. Ich frage die Nazi-kosupurei-Frau, warum sie gerade diese Uniform trägt. Sie lacht verlegen und sagt es gibt halt Leute, die das Design mögen, “kakkô ii” (sieht hübsch aus). Sie wendet sich an ihren etwas älteren Freund. Der: “Das Charisma von Hitler ist sehr attraktiv. Wir brauchen diese Art von Charisma für unseren Premier-Minister.” Die Requisiten inclusive Gürtel mit Swastika und Mütze mit Totenkopf haben sie von einer Versandt-Firma bestellt. Anne Frank und KZs sind für sie bestenfalls Figuren und Szenen aus dem Kino.

Einige Meter weiter stehen nebeneinander Leute in Uniformen aus diversen Zeiten und Ländern, reale, imitierte und fiktive: russische, chinesische, US Luftwaffe, Patlabor-Fantasie-Uniformen (nach einer beliebten Zeichentrick-Serie), Original-DDR-Grenzer, DDR Marine, alle komplett mit Koppel und Accessoires, andere nur mit Tarnhosen und Barett. Aus einem (Original?) Volksempfänger schallt Nazi-Marschmusik. Dahinter ein Mitt-Dreißiger, der sich als Militärforscher bezeichnet. Er erklärt im Kansai-Dialekt, sein Interesse sei es, Comics und Bücher über Militaria zu schreiben, Informationen an Interessierte zugängliche zu machen, weil es sehr teuer ist, Bücher über Uniformen, Geländewagen oder Kampfflugzeuge aus dem Ausland zu beschaffen. Ein Photoalbum zeigt ihn neben sowjetischen Militärflugzeugen.

Ein sehr aufwendig gemachter manga ist in Papyrus gebunden. Die Verkäuferin sagt, das stammt aus Ägypten, wo sie lebt, und daß sie extra für die zwei Tage zur komiketto nach Japan zurückgekommen ist.

Neue Generationen – Moratorium Menschen und Shinjinrui

Die Japaner, vielleicht mehr noch als andere Völker, sind eifrig bestrebt, herauszufinden, wer sie sind und wo es mit ihnen hingeht. Mit der ‘Zweiten Öffnung des Landes’ durch die amerikanischen Besatzungsmächte 1945 setzt der Nihonjinron, der ‘Diskurs über die Japaner’, ein. Die Flut der Veröffentlichungen über die Wurzeln des Japanischen und die Besonderheit der Japaner im Vergleich zu westlichen Menschen schwillt mit dem Aufstieg zur Wirtschaftsmacht in den 60er Jahren noch an. Mit der ‘Bubble Economy‘, der vor allem durch Grundstücksspekulation aufgeblasenen Geldwirtschaft der 70er und 80er Jahre,11 wird der akkumulierte industrielle Reichtum in der Gesellschaft spürbar. An der Vorfront des Hyperkonsums befinden sich die Teens und Twens – Zielgruppe immer schneller wechselnder Moden und Medien und Gegenstand ebenso schnell wechselnder psychologischer, sozialwissenschaftlicher und kulturkritischer Betrachtungen. Veränderungen in Einstellungen und Mentalität sind bei Jugendlichen am frühsten und deutlichsten attestierbar. Der Wunsch herauszufinden, wo es mit Japan hingeht, führt dazu, daß beinahe jedes Jahr eine ‘Neue Generation’ geprägt wird. Der Begriff otaku hat zahlreiche Vorläufer in den Debatten um die gegenwärtige Massenkultur.

Eines dieser Schlagwort, das für etwas länger als eine Saison regelmäßig auftauchte war Moratoriumu Ningen (Moratorium Menschen).12 Der Psychoanalytiker und Nichiren-Buddhist OKONOGI Keigo13 prägte es 1977 inspiriert von Erik Ericksons Life-Cycle Theorie. Ursprünglich bezog sich Ericksons Begriff vom ‘psychosozialen Moratorium’ auf eine Periode der Ausbildung oder des Studiums, in der junge Menschen den Verpflichtungen und Verantwortungen der Gesellschaft gegenüber enthoben sind. In Okonogis Interpretation wird es zum heute vorherrschenden ‘Sozialcharakter’. Die Beschreibung dieser Moratorium-Mentalität läßt sich als Hintergrund für das otaku-Phänomen der 80er Jahre lesen.

Die wohlhabende Konsumgesellschaft, sagt Okonogi, hat einen infantilisierenden Effekt. Medien und Werbung sprechen das Kind in jedem von uns an. Im Maße die Geschwindigkeit des sozialen Wandels, vorangetrieben durch Wissenschaft und Technologie, sich erhöht, ist jeder gezwungen sich flexibel anzupassen und beständig zu lernen, um den Anschluß nicht zu verlieren. Der Rausch des kulturellen Erscheinens und Verschwindens läßt keine andere Seinsweise zu als die zeitlich begrenzte, provisorische – permanent ‘auf Abruf’. Kein anderer Modus als ein spielerisches, müßiges Engagement, das Distanz wahrt. Jeder ist sowohl zum Konsumenten wie zum unbeteiligten, ungebundenen Besucher in einer kontrollierenden und beschützenden Struktur geworden. Die seichten menschlichen Bindungen erlauben den Moratorium-Menschen, und ebenso den otaku, isoliert zu leben. Die Moratorium Biographien führen zu einem “Identitätsdiffusions-Syndrom” und einem “Ego-Vakuum”, die, so Okonogi, heute zur ‘normalen’ Lage der Dinge geworden sind. Das Moratorium wird zum Selbstzweck. Aber die Situation enthält auch eine explosive, destruktive Kraft.

Vor allem anderen gibt Okonogi den Massenmedien die Schuld, die “einen unwirklichen Zustand der Existenz” erzeugen. “Die Selbst-Dissoziation, die für die Massenmedien charakteristisch ist, kennzeichnet auch die psychologische Struktur der jungen Menschen… Sie sind jetzt omnipotent geworden, indem sie sich den Massenmedien assimilieren, die eine magische Macht über die Gesellschaft haben.”

Okonogi ist Moralist. Durch seinen Artikel zieht sich ein Ton von kulturellem Pessimismus, selbst wenn er uns am Schluß damit beruhigen möchte, daß er auf die ersten Zeichen eines post-Moratoriums Trends hinweist. Was bleibt, ist das nüchterne Bild von isolierten, solipsistischen Frauen und Männern, die sich in den postmodernen Wogen verlieren, die sogar die ‘wirkliche Gesellschaft’, von der aus Okonogi schreibt, zu begraben drohen – die Gesellschaft von Produktion und Distribution.

Von den Moratoriumu Ningen nehmen wir für die folgenden Betrachtungen den klagenden, enttäuschten Ton der main stream Gesellschaft mit, von der sich die Jugendkulturen zunehmend absetzen. Auch daß es die erklärten Ziele dieser ‘Gesellschaft von Produktion und Distribution’ selbst sind – technischer Wandel, Medien, Konsum, Beschleunigung – die die Möglichkeit der Ausbildung einer sich durch die Zeit durchhaltenden Identität untergraben. Das Bild der wankelmütigen, hedonistischen Moratorium-Menschen präzisiert sich in der Nachfolgegeneration, den shinjinrui. Mit ihnen begegnet uns die Leere wieder, und zusätzlich erhalten wir eine fröhlichere Herangehensweise an Information. Sie bringen uns einen weiteren Schritt hin zur Geburt der otaku.

Das Wort shinjinrui, wie otaku, hat eine große Bandbreite von Bedeutungen. Gelesen als shin jinrui übersetzt es sich zu ‘Neue Menschheit’, interpretiert man die chinesischen Schriftzeichen als shinjin rui entspricht es einer ‘Sorte neuer Menschen’. Als nicht-spezifischer Begriff kann es jede Art neuer Generation bezeichnen, aber zuweilen geht es eine Bindung ein mit einer bestimmten Gruppe junger Menschen. Zum Beispiel mit den Yuppies der späten 70er Jahre.

Jene shinjinrui waren College-Studenten oder Angestellte zwischen 20 und 30. Ganz anders als die otaku legen sie großen Wert auf geschniegelte äußere Erscheinung. Sie arbeiten vorzugsweise als Modelle oder in der Werbung, was ihnen genug Geld einbringt und Zeit läßt, ihrem Hauptvergnügen nachzugehen: sich mit Luxusgütern und schnellen Autos zu präsentieren. Der letzte Schrei unter den shinjinrui ist ein gebräunter linker Arm, der signalisiert, daß der jeweilige ‘Boy’ oder das ‘Girl’ ein prestige-trächtiges importiertes Auto mit dem Lenkrad auf der linken Seite fährt. Die shinjinrui wurden nach TANAKA Yasuos preisgekröntem Bestseller-Roman “Nantonaku, Kuristaru” auch ‘Kristall-Kids’ genannt.14 Der Erfolg dieses Buches beruhte darauf, daß seine hunderte von Fußnoten eine Art Yuppi-Führer für Tôkyôs Restaurants, Boutiquen und Clubs abgaben, eine Hip-Sein-Einfach-Gemacht-Anleitung. Nantonaku, Kuristaru erschien zuerst 1980 im Monatsmagazin “Bungei” (Die Künste) und wurde sofort in einer Buchausgabe wiederveröffentlicht, die in kürzester Zeit eine Million mal verkauft wurde. Tanaka vermittelt uns einen ausgedehnten Insider-Einblick in das fröhliche Leben in leeren Formen. Ein Leben, in dem man offensiv und aus ganzem Herzen dem Snobbismus und der Affektiertheit huldigt. Der Plot des Romans “verges on nonexistence”,15 aber in 442 Fußnoten prahlt der Autor mit all den Informationen, die der trend-bewußte Hyper-Konsument benötigt. Da die Mode so schnell wechselt, war der größte Teil der Information in dem Moment, da das Buch die Massen erreichte, natürlich überholt. Andere Effekte waren langlebiger. So ist die japanischen Sprache durch die shinjinrui bleibend um den Begriff “Markennamen-Syndrom” bereichert worden.

Der shinjinrui teilt mit dem otaku die Leidenschaft für Details, die die Stelle einer zusammenhängenden Weltsicht einnimmt. Er muß vor Ort, an der Konsumfront sein und die letzten Ausgaben von “Mari Claire” und “Popeye” und “Brutus” gelesen haben. Wie sonst sollte er wissen, daß Armani ‘out’ ist und Perrier wieder de rigueur. Und wie sonst sollte er beim Small-Talk an der Theke im “Gold” oder “Cave” mithalten können. Shinjinrui sind gut-informierte Snobs. Den Menschenschlag gibt es heute immer noch, aber das Wort ist aus der Mode gekommen. Damit ist es wieder frei, um die nächste Generation von ‘Neuen Menschen’ bezeichnen zu können.

Geburt und Aufstieg der ‘otaku’

Die Etymologie des Wortes ist nicht ohne dunkle Stellen. Otaku ist genauso wie shinjinrui aus der Alltagssprache abgeleitet und bedeutet ursprünglich ‘Ihr Haus’, dann in einem neo-konfuzianischen pars pro toto ‘Ihr Ehemann’, und im weiteren Sinne wird es als Personalpronomen ‘Sie’ verwendet (da ein japanisches Individuum nicht ohne seine Verbindung zu seinem Haushalt gedacht werden kann). Bekanntlich gibt es im Japanischen 48 Weisen ‘ich’ zu sagen16 und etwa so viele für die zweite Person. In den meisten Fällen wird ‘ich’ oder ‘du/Sie’ ganz gemieden, aber wenn man jemanden direkt ansprechen möchte, wählt man seinen Namen oder anata (zu einem sozial Gleich- oder Höherrangigen), kimi (zu einem Untergeordneten und in einigen Fällen zu einem Gleichrangigen), omae (zu einem engen Freund oder Untergeordneten) oder – otaku. Otaku ist eine höfliche Form, jemanden anzureden, dessen soziale Stellung einem selbst gegenüber man noch nicht einschätzen kann, und es erscheint häufiger in der Frauensprache. Es wahrt Distanz. Wenn es unter Gleichrangigen verwendet wird, kann es einen ironischen oder sarkastischen Beiklang haben, ist aber meistens im Sinne von ‘bleib mir vom Leib’ gemeint. Man stelle sich Teenager vor, die sich gegenseitig siezen.

So war es einmal. Bis vor etwa zehn Jahren einige junge Leute anfingen, diesen Ausdruck von Abstand für Kollegen und Freunde zu verwenden. Es gibt keinen Konsens über den genauen Zeitpunkt und Ort dieses historischen Ereignisses. Die jüngste Vergangenheit scheint die ungewisseste zu sein, und sie wird nur in der Form von Gerüchten überliefert. Es bedürfte eines Alltagshistorikers, um auszugraben, was gestern geschah. Einige Informanten sind der Ansicht, daß das Phänomen in der Welt der Werbung begann, andere sagen, es war in Kreisen von Sammlern von Zeichentrickfilm-Bildern: “Zeig mir bitte deine (otaku-no) Sammlung.” Das vertrauenswürdigste Gerücht besagt, daß es zuerst unter Leute aufkam, die in TV- und Animations-Firmen arbeiten. Von da verbreitete es sich unter den Zuschauern von animes (animation, Zeichentrickfilme) und in den engverwandten Welten der manga und Computer-Spiele.

Was genau man machen muß und was man sein muß, um sich als otaku zu qualifizieren, ist schwierig zu bestimmen. Der kleinste gemeinsame Nenner, den das Wort selbst zu transportieren scheint, ist Distanz und Abgelöstheit. Um etwas über die Verwendung eines gerade modischen Ausdrucks herauszufinden, ist das Naheliegendste, das “Grundwissen der Gegenwärtigen Begriffe” (Gendai Yôgo Kisochishiki) zu konsultieren, eine jährlich erscheinende Enzyklopädie über alle Lebensbereiche und eine unerschöpfliche Quelle von Einsichten in die sich rasch verändernde japanischen Sprache. In der 1990er Ausgabe heißt es unter ‘otaku‘:

“Ist als diskriminierendes Wort unter manga und anime-Besessenen verwendet worden. Es verbreitete sich nachdem 1984 NAKAMORI Akios Artikel “Manga Burikko”17 erschien. Es steht für den Typus von Mensch, der nicht mit anderen kommunizieren kann, der sich in hohem Maße für Details interessiert und ein exklusives Interessengebiet hat, dem er mit Besessenheit nachgeht. Otaku haben die Neigung, fett zu werden, tragen lange Haare, T-Shirts und Jeans. Das Wort korresponiert mit ‘nerd’, das in den USA für Computer- und SF-Fanatiker verwendet wird.”18

Ein amerikanischer Freund erzählte mir, daß ‘nerd‘ und ‘otaku‘ tatsächlich ähnlich, aber nicht vollständig deckungsgleich sind. Ein ‘nerd’ war der Typ in der Schule, der seine Brille immer mit Tesa-Band reparierte, der wissenschaftlich Veranlagte und Radiobastler, der immer eine Batterie Stifte in seiner Hemdtasche herumtrug, die einen blauen Fleck hatte, da einer der Stifte unweigerlich kaputt ging, und der natürlich keine Freunde hatte.

Dieses Bild kommt dem sehr nahe, das TSUZUKI Kyoichi malt, ein Ex-Journalist der Yuppy-Zeitschrift “Popeye” und heute Kunst-Redakteur und Verleger, der mich in die versteckteren Ecken der otaku-Welt einweihte:

“Am Anfang wurde ‘otaku‘ in einem sehr negativen Sinne gebraucht und stand für jemanden, der nicht gut aussieht, keine Freundin hat, der unsinnige Dinge sammelt und überhaupt auf einem anderen Stern lebt. Als eine Definition würde ich sagen, ein otaku ist jemand, der sich für etwas Nutzloses begeistert. Idol-, manga– oder Was-auch-immer-otaku bedeutet, daß er nichts anderes hat als das. Aber darin geht er vollkommen auf. Es ist eine dumme Art seine Zeit zuzubringen, von einem normalen Business-Gesichtspunkt aus gesehen. Sie spielen Spiele mit der gleichen Ernsthaftigkeit, die andere für Geschäfte aufbringen.

“Man kann sie leicht erkennen, weil sie keinen Wert auf Kleidung legen. Sie reden anders, und wenn man direkt mit ihnen spricht, schauen sie auf den Boden, weil sie den Blick in die Augen nicht ertragen. Sie machen sich nichts aus körperlichen Aktivitäten, sie sind mollig oder dünn, aber nicht ‘fit’ und nie gebräunt. Sie geben nichts auf ein gutes Essen, weil sie denken, sie können ihr Geld für wichtigere Dinge ausgeben.

“Mit Computern haben sie ein wirklich intensives Verhältnis. Computer-Game Programmierer leben von Kaffee-Sahne und Kartoffel-Chips, die sie mit Stäbchen essen, um kein Fett auf die Tastatur zu bekommen. Sie haben einen anderen Lebensrhythmus, sind 40 Stunden wach und schlafen dann 12 Stunden. Von Computer-otaku sagt man, daß sie mit einem Mädchen auf dem Bildschirm Sex machen können. Aber ich glaube, viele wollen eine Freundin, aber finden keine.”19

Otaku sind ein Medien-Phänomen in mehrerlei Hinsicht. Die Medien haben zuallererst ihre Möglichkeitsbedingung geschaffen. Die Medien haben ihnen den Namen gegeben, mit denen sie sich gegenseitig ansprachen. Die Otaku leben im Medium der Medien wie Fische im Medium Wasser. Und die Suche nach ihnen ist eine Rechereche in der Mediengeschichte. Der oben erwähnte Nakamori (geb. 61) war zu der Zeit Redakteur von “Tôkyô Otona Kurabu” (Erwachsenen Club), einem mini-komi (unbedeutenden Kommunikationsmagazin), das einige ein mysteriöses Kulturblatt nennen, andere eine belanglose Soft-Porno Publikation. Als er den Begriff otaku-zoku (otaku-Generation) in seinem Artikel und in einer öffentlichen Diskussion mit YAMAZAKI Koichi einführte, gab es bereits Massen von jungen Menschen, die auf eine Identifizierung warteten. Sie lebten bereits in den Medien, so war es nur natürlich, daß sie auch Gegenstand der Medien werden wollten. Darin gehen sie mit einer allgemeinen japanischen Haltung konform. Sie haben eine ausgeprägte Vorliebe, sich in sozialen Statistiken, in den interpretierenden Debatten der Kulturkritiker oder den ‘So-sind-die-Japaner’-Büchern von in- und ausländischen Autoren zu spiegeln. Vielleicht ist es nicht wirklich die Suche nach einer Identität, die diese Literatur so populär macht, sondern vielmehr die Lust, in die Medien eingeschrieben zu werden. Außerdem mag eine Rolle gespielt haben, daß es in Japan als sehr wichtig erachtet wird, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Wie dem auch sei, der Begriff verbreitete sich sehr schnell. Eine anonyme, schweigende Masse hatte ihr Coming-Out. Gerüchten zufolge war die Vorführung des Zeichentrickfilms “Raumschiff Yamato” der erste Anlaß, bei dem die neue Generation als präsente Masse auftauchte und sich ins öffentliche Bewußtsein brachte. Die Video-Produktionsfirma hatte wie üblich eine Halle für einige tausend Besucher gemietet und über eine Million etwa Gleichaltriger kamen.

“Die Otaku sind das Produkt des Hyper-Kapitalismus und der Hyper-Konsumgesellschaft,” sagt Yamazaki (geb. ’54), ein weiterer Alltagshistoriker und eine Autorität auf dem Gebiet der otaku. Er ist Journalist, Herausgeber, Graphik-Designer und vor allem Pop-Kritiker der Asahi Shinbun und für Zeitschriften wie Asahi Journal, Popeye, Takarajima und Weekly Bunshun. “Heute hat ‘otaku‘ eine extrem weite Bedeutung angenommen. Ursprünglich verband sich damit ein präzises stereotypes Image. Es symbolisierte eine Art von menschlicher Beziehung, für die alle anderen Formen von ‘du/Sie’ zu intim wären. Otaku bezog sich auf den Raum zwischen ihnen, sie sind weit voneinander entfernt, nicht vertraut.” Yamazaki sieht den Ursprung des sozialen Phänomens otaku in den Veränderungen der japanischen Kultur in den 70er Jahren. Sie sind die Kinder der Medien und der Technologie. Sie sind aufgewachsen als Einzelkind mit einem Vater, der ständig auf Arbeit, und einer Mutter, die sehr ehrgeizig war, daß ihr Sohn fleißig lerne, damit er in eine gut Universität und damit in eine gute Firma komme – das Cliché einer japanischen Erfolgs-Story. Und Söhnchen geht hinter einem Haufen aus technischem Spielzeug, Comics und Computern in Deckung.

Die Eltern der otaku sind die 60er Generation, sehr demokratisch und tolerant. Sie wollen ihre Kinder verstehen, aber die Kinder suchen mit Absicht nach Dingen, die ihre Eltern nicht begreifen. In gewissem Sinne sind die Eltern selbst unreif und kindisch. “In Japan”, sagt Yamazaki, “gibt es wohl kein offensichtliches Bild von dem, was ein Erwachsener ist. Jeder ist ein Kind.”

Die schwerwiegenden Kommunikationsbarrieren zwischen den Generationen führten zu einer Serien von Morden von Eltern durch ihr Söhne. Es begann 1980 als ein Junge, der heute sehr wahrscheinlich als otaku bezeichnet würde, seine Eltern mit einer metallenen Baseball-Keule erschlug. Der ‘kinzoku bat murderer‘, wie er in den Medien hieß, wurde in kurzer Zeit von fünf oder sechs anderen Jungendlichen nachgeahmt, und es passiert heute gelegentlich noch. Die frühen 80er waren die Tage der Gewalt an den Schulen. Die Aggressionsausbrüche der Schüler wurden mit Disziplinarmaßnahmen und Schulregeln gestoppt, die noch die Art, wie ein Schüler zu gehen und sein Freizeit zu verbringen hat, vorschreiben. Sie erinnern Yamazaki an Orwells “1984”. Die otaku sind die Generation nach der Schul-Gewalt. Oberflächlich betrachtet sind sie gute und gesittete Schüler, lernen fleißig und bekommen gute Noten, aber unterhalb der Oberfläche sind sie Ausreißer. Otaku ist eine Zufluchtsstätte für sie.

Exkurs: Game-otaku

KUSHIDA Riko ist ein Computerspiel-otaku. Ihr kleines Zimmer ist vollgestopft mit Spielhallenmaschinen und 200-300 nackten Game-Platinen, die sie an die Konsolen anschließen kann. Sie trägt ein blaues Jeans-Kostüm und sieht etwas verloren aus zwischen den sterilen, Industriestandard-Trennwänden im Empfangsbereich des Computerspiel-Magazins “Log In”. Sie sieht mich mit lauernder Zurückhaltung an als sei sie auf der Hut, aber spricht selbstsicher und sieht mir dabei in die Augen, weshalb sie nicht als otaku im hard-core-Sinne durchgeht.

Als sie acht oder neun war, fing sie an, Heim-Videospiele wie “Pong” oder “Block” zu spielen. Mit zehn ging sie in die Kaufhäuser, weil die dort gerade eingeführten Automaten bessere Grafik als die TV-Games boten. Zur gleichen Zeit begann sie, in BASIC eigene Spiele zu programmieren. In jenen Tagen waren viele Jugendliche Radiobastler, und in Zeitschriften für Funkamateure tauchten die ersten speziellen Rubriken für die Programmierung von Heim-Computern auf. Im Alter von 13 hatte sie sich mit dem Manager der Spielhalle angefreundet, die sie jetzt täglich besuchte. Dieser führte sie bei einem Händler für gebrauchte Videospielmaschinen ein. Kunden dieser Läden waren bis dahin ausschließlich die Manager von Spielhallen gewesen. Dann entdeckten die Game-otaku sie. Von 60 DM aufwärts verkaufen sie Platinen von gebrauchten Maschinen, die bisher als Abfall galten, und komplette Konsolen und seltene Stücke für etwa 2000 – 3000 DM – eine Investition, die sich in wenigen Wochen auszahlt, wenn der Spieler nicht für jede Runde eine Münze einwerfen muß.

Als Wendepunkt in der Geschichte der Video-Games identifiziert Kushida “Space Invader”. 1978 von Taitô vorgestellt, wurde es – manchmal unter Lizenz, oft illegal – von Software-Firmen auf der ganzen Welt kopiert, und es schuf eine ganze Generation von Spielomanen. Ihm folgte der Klassiker “Pac-Man” und – laut Kushida der größte Hit aller Zeiten – “Pong” von Atari, erstmals 1972 auf den Markt gebracht. In der Post-Invader Zeit explodierte der Markt. Firmen wie Namco oder Nintendo wurden damals groß, einige sehr groß. Ursprünglich ein Spielkartenhersteller warf das ‘Videogame-Empire’ Nintendo 1989 mit 2,8 Mrd. DM die höchste Rendite unter allen japanischen Firmen ab, und das im achten aufeinanderfolgenden Jahr.

Wenn Kushida von der Geburt und dem Aufstieg des Game-Phänomens spricht, überkommt sie Sentimentalität. In jenen Tagen hat sie von Games geträumt. Aber, sagt sie, nicht die Games haben ihre Fantasie überwältigt, sondern es war ihre Fantasie, die sie überhaupt erst zu den Games geführt hat. Sie ist ein Ausnahme in der Computer-otaku-Welt, in der die überwältigende Mehrheit männlich ist. So sind z.B. 98,3 % der Leser von “Log In”, dem wichtigsten Computer-Game-Magazin, bei dem Kushida als Redakteurin arbeitet, Jungs.

Heute ist Kushida 20 und studiert Philosophie. Nein, sagt sie, sie findet die Wahl dieses Fachs nicht überraschend. Die Game-Welt schließt die ‘wirkliche Welt’ ein und vice versa. Deshalb gibt es ganz sicher eine Beziehung zwischen Philosophie und Games, aber eine sehr komplizierte, die sie nicht recht erklären kann, sagt sie und lacht.

Informations-Fetischismus und In-Animismus

Das Bildungssystem, in dem die berühmten ‘industriellen Krieger’ trainiert werden, ist ein allgemein anerkannter Hintergrundfaktor für das Aufkommen der otaku-Generation. “In der Schule” sagt Yamazaki, “wird den Kindern beigebracht, die Welt als Daten und Information aufzunehmen, auf eine fragmentarische Weise, nicht systematisch. Das System ist darauf ausgelegt, sie mit Daten, Namen, und Antworten für Multiple-Choice Prüfungen vollzustopfen. Die Bruchstück-Informationen werden nie zu einem vollständigen Weltbild zusammengefügt. Sie haben keinen Wert als Wissen, sondern den Charakter von Fetischen.” Für diesen Nachdruck auf Fakten, auf Gedächtnis- statt auf Verständnisleistungen, hat die japanischen Sprache wiederum ein passendes Schlagwort gefunden – ‘Handbuch-Bildung’. Sie bereitet einen nicht aufs Leben vor, sondern auf die allgegenwärtigen Quizz-Sendungen im TV, in denen die Kandidaten minutiöse Details aus dem Leben von Amadeus Mozart, der Comic-Figur Ultraman oder der Idol-Sängerin Matsuda Seiko präsentieren müssen. Ohne jeden Kontext bleibt dieses ‘Wissen’ nichts als eine Sammlung von Info-Chips.

‘Informations-Fetischismus’ ist ein zentraler Begriff für Yamazaki. Die otaku setzen das gleiche Muster von Informationserwerb und Reproduktion fort, das sie in der Schule gelernt haben. Nur der Gegenstandsbereich hat sich verändert: Idole, Kameras oder Rock’n’Roll. Aber Inhalt ist ohnehin vernachläßigbar geworden. Otaku-Menschen kann man in jedem Genre finden. Es ist eine Seinsweise. Man findet sie sogar in der Mode-Branche. Statt sich aus Vergnügen in eleganter Kleidung zu präsentieren, kleidet sich der Mode-otaku in Information. Er prahlt damit und fragt “Kennst du das schon? Aha, das kennst du noch nicht!” Das ist alles. Ein Rockmusik-otaku, z.B., hört keine Musik, sondern sammelt Daten über die Aufnahmen, die Namen der Musiker, Produzenten, Toningenieure, Studios etc. “Der originäre otaku zeigt uns, daß wir alle Informations-Fetischisten sind.” sagt Yamazaki, “er karikiert das Bild des Japaners.”

Unsere eigene Sammlung von Informations-Bruchstücken scheint sich um den Kern des otaku Phänomens zusammenzuziehen. Er hat zu tun mit Nutzlosigkeit und Information, aber die Rolle von Medien und Technologie bleibt noch mehrdeutig. Tsuzuki hält es für einen Fehler, sie mit den Medien zu identifizieren, es würde einige der Leute ausschließen, die tatsächlich otakki sind. Also nehmen wir wieder das “Grundwissen der Modernen Begriffe” zur Hand, das selbst bereits Ausdruck der Kultur des fragmentierten Wissens und der Info-Chips ist. Vom Eintrag über otaku-zoku lernen wir, daß diese Generation

“als Resultat einer Art, die hi-tech Gesellschaft zu interpretieren und sich mit ihr zu arrangieren, nur im Modus des Ich-ismus denken kann. Sie neigt zu einer isolierten und nicht-humanen Existenz. Ihre Neigungen reichen von Nekrophilie, Pädophilie und Fetischismus bis zur ‘Krankheit der Bruchstückhaftigkeit’ und Computer-Hackerei. Das Phänomen ist krebsartig explodiert mit der inorganischen ‘Tastatur-Gesellschaft’ als Zentrum.”

Die Aufzählung, die Hacker neben Nekrophile stellt, ist etwas überraschend, aber der Begriff ‘Tastatur-Gesellschaft’ erscheint plausibel. Japan ist die am meisten semiotisierte Gesellschaft, alles ist Zeichen, alles ist Oberfläche und Interface. Die Japaner führen einen Zeitschriften-Lebensstil. Man braucht sich nur Leute auf der Straße anzusehen, um zu wissen, welche Magazine sie lesen. Alles kommt in einem ready-made Paket. Die otaku entwickeln nur die japanische Mentalität der Hybridformung aus gegebenen Informationen weiter. Und sie werden tatsächlich zu einem hybriden Gebilde mit ihren Maschinen. Ein ‘media saibôgu‘ (cyborg – kybernetischer Organismus), lesen wir im “Schatz der Weisheit”, einer Imitation unseres hochgeschätzten “Grundwissens”, ist eine abhängige Person, z.B. eine couch-potato (kauchipoteto). “Der Medien-Cyborg lebt dank der Medien. Im Zeitalter des Cyber-Medialismus mit seiner Betonung der Simulation werden die hi-tech Medien zur überlebensbedingung. Der Medien-Cyborg in seinem elektronischen Mutterschoß wird auch ‘Alien’ genannt.”20

Die japanische Beziehung zur Technik ist in der Tat etwas Auffälliges. Japanische Kinder sind Genies bei der Bedienung von technischen Geräten, aber, so Yamazaki, sie können nicht gut reden und ihre Meinung ausdrücken. Sie fühlen sich mit anderen Menschen weniger wohl als mit Maschinen, Materialien und Information. Daher tendieren sie zu einer Art In-Animismus. Lebende Wesen werden als unbelebte Dinge vorgestellt. Yamazaki erzählt mir vom Haustier-Boom und davon, daß ihre Besitzer die Hunde und Katzen als mechanisches Spielzeug behandeln. Sobald sie langweilig geworden sind, werden sie weggeworfen. Arnold Schwarzenegger und Silvester Stalone sind große Helden für viele otaku. Sie selbst kämen nicht auf die Idee, Body-Building zu betreiben. Sie stellen sich diese Muskelberge als Roboter, als wohl-designte Maschine vor, nicht verschieden von Comic-Figuren wie Gundam. Dieser In-Animismus ist vielleicht die Kehrseite des traditionellen schintoistischen Natur-Animismus, der in der Gegenwartskultur weiterlebt. “Japaner sind in gewisser Weise Fetischisten. Sie unterscheiden das Belebte nicht vom Unbelebten. Diese Tatsache ist ein wichtiger Hintergrund für die otaku. Der ‘Zwei-Dimensionen-Komplex’ ist eine Art Animismus. Sie behandeln Menschen wie Dinge und Dinge wie Menschen.” Der ‘Zwei-Dimensionen-Komplex’ entsteht daraus, daß die otaku die Welt einzig über Bildschirme und Druckmedien wahrnehmen. 2-D ist wirklicher. Bilder plus Fantasie gleich Hyper-Realität.

Kommunikations-Muster und minna

Je weniger miteinander geredet wird, desto mehr wird kommuniziert – diese Faustregel scheint in allen hoch-informationalisierten Gesellschaften zu gelten. Die otaku bilden in ihrer Idiosynkrasie gegenüber Augenkontakt nur einen allgemeinen Trend verstärkt aus. Fax-to-fax Kommunikation ziehen sie face-to-face Begegnungen allemal vor.

Vor etwa zehn Jahren kam in der Kulturkritik das Wort takotsubo auf (‘Tintenfisch-Topf’: Gefäß zum fangen von Tintenfischen; sie verstecken sich darin und können nicht wieder herauskommen) als Metapher für eine Sackgassen-Situation. Die takotsubo-Kultur meinte etwas ähnliches, wie die otaku heute, eine autistische Kultur, sehr spezialisiert, geschlossen, selbstzufrieden, nicht an anderen interessiert. Mit dem Unterschied, daß ein Telephonkabel und vielleicht schon bald ein Glasfaserkabel den Tintenfisch-Topf mit anderen Töpfen verbindet.

Dem abgeschlossenen Innenraum des takotsubo entspricht ein hyper-kontrollierter, hyper-verwalteter öffentlicher Raum (den selbst noch die otaku sich schaffen, wenn sie als präsente Masse auf einer komiketto zusammenkommen, s.o.). Diesem Raum der fiktionalen, relativischen ‘administrativen Gesellschaft’ ohne Außen und ohne Freiräume galten die Gewaltausbrüche Anfang der 80er Jahre. Die otaku gehen nicht frontal dagegen an, sie ziehen sich aus ihm zurück.

Was ist das Grundprinzip, das diese Gesellschaft so flexibel und ungreifbar und zugleich so hermetisch macht? “Japan bezieht keinen moralischen Standard aus der Religion,” erklärt Yamazaki,

“es kennt keine internalisierten Werte. Die Gesellschaft kann ihre Kinder den Unterschied von gut und böse nicht lehren. Wenn wir etwas tun, gibt es keinen internalisierten Mechanismus, der uns sagt, wann wir aufhören müssen. Der Standard liegt außerhalb und ist immer relativ. Das Schlüsselwort dafür ist ‘minna‘.21 Minna ist Gott in Japan. Minna hat keine Substanz, es ist sehr vage. Es meint kein konkretes Wesen, sondern etwa ‘die ganze Welt’, ‘alle außer mir’. Der Tennô; ist das Symbol von minna, er verkörpert minna. Wenn ich mich abseits stelle, verliere ich den einzigen Standard – minna. Es ist sehr beängstigend alleine dazustehen, deshalb müssen wir uns schützen. Die otaku laufen vor minna weg. Aber sie müssen ihre autistische Welt mit Wänden aus Video, manga, Computer-Games usw. schützen. Daher kommt der Ausdruck ‘Ich bin allein, aber nicht einsam.’ (hitori bocchi da-keredo sabishikunai.) Die otaku haben das Potential, wirkliche neue Japaner zu werden. Sie versuchen eine Antwort zu finden auf die Frage, ob wir ohne minna leben können. Es ist eine Art Experiment, aber ich glaube, otaku ist der einzige Weg.”

Nach anderer Ansicht zerfällt die homogene Masse des minna heute in eine Vielfalt von Teilmassen, ein Mosaik von kulturellen Stilen, verstreut und dezentriert. “Now is the Meta-Mass Age” ist der Titel einer Gegenwartsanalyse, herausgegeben von einem der modischsten Kaufhäuser Tôkôs.22 Danach haben im Zeitalter der Meta-Massen die Unterschiede von Hoch- und Massenkultur, herrschender und Subkulturen und Produzenten und Konsumenten von Information keine Gültigkeit mehr. Die Bedingungen der Kommunikation sind transformiert und am treffensten als ‘Diskommunikation’ zu bezeichnen. Ohne den Anspruch, zwischenmenschliche Verbindungen aufrecht zu erhalten, findet Kommunikation ein Gefühl von Sicherheit in den Bedingungen der Dispersion selbst. Kommunikation zeigt heute Aspekte von Bruch, Abrutschen, Fälschung, Deplazierung und Fiktionalität. “Yet the meta-masses are those that see this condition positively, as one of ‘play’ [asobu]. In the meta-mass age, mass communcation [masu komi] has lost its former functions, and has become instead ‘mass garbage’ [masu gomi].”23

Diese Charakterisierung trifft ebenso auf die Kommunikations-Strukturen der otaku zu. Aus ihrem Tintenfisch-Topf senden sie Botschaften in die technischen Medien. Message ist das jeweilige Medium, wie für Amateurfunker, die sich rund um die Welt im Äther treffen, um sich mitzuteilen, mit was für Anlagen und in welcher Qualität sie sich empfangen haben. Mit Computernetzen ist die Anzahl möglicher Hard- und Software-Probleme, über die man kommunizieren kann, ohne etwas außerhalb des Mediums selbst zu erwähnen, explodiert. In den otaku-Bulletin Board Systems, den elektronischen Schwarzen Brettern, gibt es darüberhinaus Rubriken für jeden Zweig der otaku, was nicht alle von ihnen zu Computer-otaku macht. Sie benutzen die elektronischen Netze, um zuhause zu bleiben und ohne physischen Kontakt Gleichgesinnte zu treffen.

Grundsätzlich können sie nur mit dem gleichen Typus otaku kommunizieren. Ihr Austausch ist nicht interaktiv. Sie geben mit ihren Informationen nur an. Otaku kategorisieren einander nach ihren Vorlieben für bestimmte Details. Wenn zwei feststellen, daß sie sich überschneidende Geschmäcker haben, kommen sie gut miteinander aus, wenn nicht, haben sie sich nichts zu sagen. Kein Bekehrungsdrang treibt sie dazu, ihre spezielle Vorliebe zu predigen. Innerhalb des gleichen otaku-Genres tauschen sie Fakten und Daten aus, prahlen mit neuesten Informationen, verbreiten Gerüchte und Klatsch und Tratsch, betreiben belanglose und spielerische Kommunikation (z.B. Rollenspiele in Computernetzen oder Telephon-Parties), die Zerstreuung des Selbst in die Netze und in letzter Instanz – Diskommunikation. Es ist wichtig, daß gesprochen wird, nicht was. Charakteristisch für otaku ist, daß sie ohne Kontext sprechen. Sie leben im Simulakrum eines selbst-referentiellen Systems, das keinem Inhalt unterworfen ist. Zentral ist das Bewußtsein: es gibt Medien.

Ob durch die Zersplittererung in Sub- oder Meta-Massen die Macht von minna, die sich ohnehin nur relativisch in Situationen von Anwesenheit aktualisiert, bereits gebrochen ist, bleibt fraglich. Anzunehmen ist aber, daß die otaku durch ihren Rückzug ein Rumpelstilzchen-Gefühl gewinnen. Die Masse, das sind immer die anderen. Man selbst ist ein anderer als die Masse und kann sich in der Überlegenheit der ungewußten Andersartigkeit von den anderen absetzen. Ach wie gut, daß niemand weiß…

Manga und otaku-Sexualleben

Comics stellen einen gewaltigen Markt dar. Die geschätzte Gesamtauflage aller 1988 verkauften manga beträgt 1.758.970.000. Das sind knapp ein Drittel aller japanischer Publikationen.24 Der manga mit der höchsten Auflage, “Shônen Jump”, verkauft jede Woche 5 Millionen Exemplare. Häufig so dick wie Telephonbücher sind sie allgegenwärtig in U-Bahnen, Restaurants und Supermärkten. Jugendliche wie Erwachsene lesen sie. Schüler, Studenten, Ärzte und Professoren zeichnen sie. Die Waseda Universität in Tôkyô ist dafür bekannt, daß ihr manga-Club die größte Zahl erfolgreicher Cartoonisten hervorgebracht hat. Wöchentlich erscheinende Serien werden als Buchversionen neu aufgelegt, die sich wiederum in Millionenzahlen verkaufen. Die Geschichten tauchen in TV-Animationen und Video-Spielen wieder auf, die Figuren auf T-Shirts, Aschenbechern, Schürzen, Kalendern und natürlich in der Werbung – die Spinoff-Industrie ist noch einmal so umfangreich wie der manga-Markt selbst.

Das in der industrialisierten Welt einzigartige Phänomen hat zu zahlreichen, auch akademischen, Diskussionen über die Auswirkungen von manga auf die Gegenwartskultur, Einflüsse auf Rollenmodelle oder die Veränderungen in der Verlagswelt geführt. Linguisten studieren die lautmalerische Sprechblasensprache und ihre Einflüsse auf die Umgangssprache. Kulturanthropologen suchen nach Erklärungen für die überwältigende Beliebtheit von Comics in Japan – die sie z.B. aus der Nähe von Pinselschrift zu Bildern ableiten: “There is a natural transition from Chinese ideographs written with a brush to pictures.”25 Eine Gewerkschaftszeitung brachte Mitte der 70er Jahre eine lange Debatte zwischen einem Vertreter der Alten Linken (contra-manga) und der Neuen Linken (begeistert pro-manga). Die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt NHK nahm diesen Dialog zum Anlaß, im Herbst 1978 eine Podiumsdikussion mit zwanzig hochkarätigen Gelehrten zu veranstalten.26

Unterhalb der kommerziellen manga – im ‘Untergrund’, wenn man so will – finden sich die manga, die die otaku zeichnen. Sie zirkulieren meist in kleinen Auflagen auf den komiketto oder per Postvertrieb. Die erfolgreicheren sind auch in Comic-Läden wie Takaoka in Kanda oder Manga no Mori in Shinjuku erhältlich. Der Buchladen Shôzen in Tôkyôs Bücherdistrikt Kanda ist ein weiterer Ort, wo an einem Samstagnachmittag Massen von otaku in Jeans oder noch in Schuluniform verbissen ihren Weg durch die schmalen Gänge kämpfen und still durch Comics und Idol-Fanzines stöbern, durch Soft-Pornos und Spiele, Computerspiel-Musik CDs, “Dragon Quest” und manga Plastic-Figuren, Telephon-Karten mit manga-Figuren und Idolen darauf, Poster und Plüschtiere. Hier findet man auch eine kleine Auswahl der Garagen-Comics von der komiketto mit Titeln wie “Uncolored”, “Cupid”, “Hyperactive”, “Paf Paf”, “Blind Logic” oder denjenigen mit dem ausführlichen englischen Titel “Wing. That’s Gret (sic!) It covers various kinds of Comics and Novels which makes your feel at home.”

In den meisten Fällen sind diese manga Hybride oder Genre-Mutationen von kommerziellen Comics. Sie legen eine Haltung von fröhlichem ‘playgiarism’27 an den Tag, die nicht einmal anstrebt, originell zu sein. Der einzig wirklich ‘originelle’ Aspekt an ihnen ist, daß sie im Unterschied zu den pornographischen Comics, die man im Supermarkt kaufen kann, unzensierte Abbildungen von primären Geschlechtsorganen enthalten. In einem Land, in dem jedes einzelne Schamhaar, das zur Veröffentlichung in Print oder Film bestimmt ist, abgedeckt oder mit Sandpapier ausradiert werden muß, ist die Tatsache, daß otaku manga alles zeigen, schon fast revolutionär.

Wir können getrost annehmen, daß ein großer Teil des Sex-Lebens der otaku von Comic-Figuren in manga, Zeichentrickfilmen und Video-Spielen repräsentiert wird. Sex ist für sie nichts physisches, sondern etwas mediales. Sie haben keine Liebhaber, zum einen weil sie Angst voreinander haben und zweidimensionale Befriedung viel sicherer finden. In dem Sinne kann man sich den Helden aus Steven Soderberghs Film “Sex, Lies and Videotape” als westliches Pedant zu den post-sexuellen otaku denken. Yamazaki schlägt noch eine weiter Erklärung vor: 2-D Sex ist eine Reaktion auf den Druck des vorherrschenden männlichen Chauvinismus. Jungen weigern sich, zum üblichen Macho heranzuwachsen. Sie möchten nicht aggressiv sein. Es stimmt, in den Comics gibt es eine Menge Gewalt, SM, Peitschen und Bondage, aber in der wirklichen Welt könnten sie so etwas nicht tun, dazu sind sie zu schüchtern.

Auch das größte otaku manga Genre der Mädchen ist post-sexuell. Die Zeichnerinnen und Leserinnen selbst kommen darin nicht vor. Die Welt der yaoi-Comics ist ausschließlich von hübschen homosexuellen Jungs bevölkert. Auch hier wird gekämpft und Blut vergossen, aber weit weniger brutal und nur um die Helden am Schluß in einem versöhnenden Liebesakt zusammenzuführen. Versucht man diesen unbeteiligten Beobachter-Sex zu entschlüsseln, wird man von der ironischen Selbstbezeichnung zurückgewiesen – yaoi ist ein Akronym aus YAma-nashi (kein Klimax), Ochi-nashi (keine Pointe) und Imi-nashi (keine Bedeutung). Wenn auch ohne ‘Sinn’, ist dieses Genre doch nicht ohne Geschichte. Anfang der 70er Jahre traten weibliche Cartoonisten mit kommerziellen manga hervor, die sich um männliche Homosexualität drehten. Sie wurden inspiriert von einem 1913 gegründeten Variete, der “Takarazuka Mädchen Oper”. Damals wuchsen die Geschlechter streng getrennt auf und fanden Vergnügen an dem imaginären Geschlechter-Spiel auf der Bühne, bei dem Mädchen in einer Umkehrung der männlichen Frauendarsteller im Kabuki die besseren, sanfteren, zivilisierteren Jungs spielten. Der Einfluß geht nicht nur von Takarazuka zu Comics, sondern auch vice versa. Ein berühmter Comic der Catoonistin Ikeda Riyoko über die französische Revolution, “Die Rose von Versailles”, wurde in den 70er Jahren als großer Hit von Takarazuka auf die Bühne gebracht.

Ein weiteres Haupt-Genre in der manga-Porno-Welt sind die rorikon, ein besonders kryptisches Anagramm, das nicht ohne Zuhilfenahme unseres treuen “Grundwissen der Modernen Begriffe” gelöst werden kann: “rori-kon bekam seinen Namen von einem Roman Vladimir Nabokovs. Es bedeutet die merkwürdige sexuelle Vorliebe für Teenager-Mädchen (Lolita Komplex).” Es ist so eng verwandt mit otaku, daß die Enzyklopädie ihn als ihr wichtigstes Charakteristikum bezeichnet: “Man nennt die otaku auch ein rorikon-zoku [Generation von Lolita-Komplexigen].”

An diesem Punkt müssen wir dem “Grundwissen” widersprechen. Einerseits wäre es nicht besonders charakteristisch, wenn Teenage-otaku Mädchen ihrer eigenen Altersgruppe begehren. Andererseits hieße, die otaku mit der weit verbreiteten kulturellen Vorliebe für ein Teenager Sex-Ideal gleichzusetzen, den ganzen Reichtum an bizarreren Formen von otaku-Ausdruck zu ignorieren. Zum Beispiel “In Spite of… you know it” oder “Lemon Impulse”, die sich an die Uniform-Sex Liebhaber unter den otaku richten. Oder “Juggs” für die Fans von großbrüstigen Hermaphroditen. Oder “Samson”, ein Magazin mit Comics, Photos und Gedichten, die sich ausschließlich fetten, alten Schwulen widmen. Das Sex-Ideal, das hier der Lolita der rorikon entsprechen würde, ist der gealterte Sumo-Ringer. Es ist schwer vorstellbar, was ein 15-jähriger otaku an diesen Pornos erhebend findet. Aber vielleicht repräsentieren sie den reinen, abstrakten Sex, die Simulation von Stimulation.

Seit Anfang 1991 hat die offizielle Gesellschaft den Comic-Untergrund eingeholt und in die Schranken der Schamhaargrenze verwiesen (die selbst Reproduktionen von van Gogh oder zu explizite Ukiyo-e den Augen der öffentlichkeit entziehen). Damals begannen Mütter sich zu organisieren, die mit Entsetzen feststellten, was in den Kinderzimmern gelesen wird. Sie organisierten Beschwerden und Proteste und schickten nach der komiketto 1990 eine Auswahl dort erstandener obszöner manga an die Polizei in Chiba. Die Messehallen-Gesellschaft wurde darauf aufmerksam gemacht. Diese fürchtete daraufhin um ihren guten Namen und annulierte den Mietvertrag für die nächste komiketto, die deshalb nach Harumi-Messe umziehen mußte. Im Februar 1991 führte die Polizei Hausdurchsuchungen bei Druckereien, otaku-Verlagen, Vertreibern und bei drei Buchhandlungen in Tôkyô durch, konfiszierte manga und verhaftete fünf Personen. Die Gesetzesgrundlage für das Eingreifen ist unklar, als Vorwurf wurde genannt, die sexuellen Darstellungen seien zu explizit gewesen. Die Organisatoren der komiketto 1991 forderten die teilnehmenden Zirkel auf, sich an die herrschende Moralvorstellung zu halten. Seither haben sich die otaku-manga noch mehr den kommerziellen manga angeglichen.

Da wir Sex und Rock’n’Roll behandelt haben, möchten Sie vielleicht auch wissen, wie es die otaku mit Drogen halten. Antwort: kein Interesse. Otaku sind anti-somatisch. Information ist ihre einzige Droge, aber die nehmen sie bevorzugt intravenös.

Idols und Modellbausätze

Comics haben mittelbar oder unmittelbar große Teile der japanischen Kultur beeinflußt, von der Werbung bis zu Souvenier-Läden, die ausschließlich Paraphernalia einer einzigen Comic-Figur führen. Wenn ein neuer Trend in einem Medium aufkommt, wird er sofort von den anderen aufgenommen. Popmusik-Idole werden geprägt von manga und bringen ihrerseits neue Trends in manga, Animation und Video-Spielen hervor. Und sie haben natürlich ihrer eigenen otaku-Anhänger. Idole sind vorwiegend Sängerinnen, aber es gibt auch puro-res-Idole (professional wrestling, zu gut Deutsch: ‘Catchen’) wie Cutie Suzuki (21) und Dirty Yamato (20). Diese lebenden Mixturen aus Kampf- und roriko-manga sind auch bekannt als ‘kämpfende Puppen’. Die größte Idol-Gruppe jedoch sind junge Mädchen mit hübschem Gesicht, die am Fließband zu ‘Talent Singers’ gemacht werden.

Das “Grundwissen ’90” schweigt sich über das Idol-Phänomen aus, daher müssen wir wieder den “Schatz der Weisheit” konsultieren. Unter “idoru-shisutemu” (Idol-System) lesen wir:

“Was wir als das Idol-System der 80er Jahre bezeichnen, ist das Fiktions-Spiel, bei dem der Sender und der Empfänger zu einem einzigen werden. Wir müssen dieses trennen vom Charisma des früheren Zeitalter dessen, was Star-System (sutaa-shisutemu) genannt wurde. Die 80er Jahre werden vom neuen Typus des Idols wie KONDO Masahiko und MATSUDA Seiko repräsentiert. Sie konkretisieren den Geist der 80er, der durch Simulation bestimmt wird und damit den Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit zum Verschwinden bringt.”

Der Selbstmordversuch von NAKAMORI Akina im Sommer 1990 war ein Bruch im Paradigma des Idolismus. Anders als Matsuda (Japans Madonna) hatte sie ihr Privatleben von ihren Aktivitäten auf der Bühne getrennt und sich damit eine relativ mysteriöse Erscheinung bewahrt. Aber sie scheiterte, weil das Publikum kaltherzig verlangt, daß Idole einzig innerhalb der Medien existieren dürfen.

Der ‘neue Typus’, den Matsuda repräsentiert, heißt burikko. Das Wort leitet sich ab aus ‘buri‘ (schauspielern, vorgeben, vorgaukeln) und der Endsilbe ‘-ko‘, die das Bezeichnete niedlich macht. Man könnte es wohlwollend als ‘sweet little pretender’ übersetzen, oder bösartiger als ‘kleine Lügnerin’. Burikko bezeichnet unattraktive Mädchen-Sängerinnen, die vorgeben, besonders dumm zu sein. Sie sehen übertrieben niedlich aus mit weit aufgerissenen großen Augen und zu viel Rüschen und Spitzen. Sie sehen wie manga-Figuren aus. Sie scheinen hilflos, sind es aber in Wirklichkeit nicht, sondern herrschen mit eiserner Faust. Matsuda Seiko ist zum burikko geboren. Sie schielt und hat vorstehende Zähne. Die Jugendlichen sind verückt nach ihr und Frauen hassen sie, weil sie in ihrer simulierten Dummheit eine Beleidigung des weiblichen Geschlechts sehen. Das burikko-Ideal wurde natürlich sofort in manga und Animation aufgegriffen.

So viel nur als Randbemerkung, um einen Eindruck von der herrschenden Unterhaltungsindustrie zu vermitteln. Jetzt sehen wir uns das ganze vom otaku-Standpunkt aus an. Ihre Idol-Verehrung besteht im Sammeln von Artefakten und Informationen über zehn, zwanzig, hundert Idole. Sie suchen sich nicht die Massenidole wie Matsuda, sondern die zweitklassigen, noch nicht erfolgreichen Idol-Sängerinnen, die sie sofort fallenlassen, falls sie zu Bestsellern werden sollten. Von diesen sammeln sie natürlich alle Platten, Postkarten, T-Shirts und andere Paraphernalia, und sie sind immer über ihre Konzert-Terminpläne unterrichtet. Aber es wären keine otaku, wenn sie sich mit industriellen ready-made Produkten zufriedengeben würden. Den Idol-otaku gibt es in zwei Untergruppen: den Videotaper und den Photographen. Der Video-Idol-otaku nimmt alle TV-Programme, in denen seine Idole auftreten könnten, auf und editiert die Bänder nach seinen Lieblingen. Der Photo-otaku hat sich eine schwierigerer Aufgabe gewählt. Die Idole geben regelmäßig Promotion- oder Mini-Konzerte z.B. auf dem Dach eines Kaufhauses oder in einem Schwimmbecken. Da unauthorisiertes Photographieren bei diesen Anlässen streng verboten ist, müssen die otaku ihre Kameras einschmuggeln. Selbst an den Zäunen sind die Ordner sehr streng. Deshalb laufen die Jugendlichen weg und lassen teure Photoausrüstungen mit gewaltigen Teleobjektiven zurück. Nach Konzerten kann man ganze Sammlungen davon finden. Sie nehmen nur den Film mit, der wertvoll genug ist, um sich neue Kameras zu beschaffen. Drei Stunden später verkaufen sie die Bilder in den Straßen von Harajuku. Den höchsten Wert haben Aufnahmen, auf denen der Wind die Röcke der Sängerinnen hochweht und ein Zipfel der Unterwäsche zu sehen ist.

Das hybride System von aidorus und aidorians mag an sich schon hyperreal erscheinen, wird aber noch vom virtuellen Idol HAGA Yui übertroffen. Haga Yui ist kein Name, sondern das Wort für ‘irritiert, ungeduldig, entnervt’, wörtlich: ‘Zahnschmerzen’. Virtuell ist sie, weil sie nicht existiert. Sie ist ein Phantom, zusammengesetzt aus verschieden Mädchen, die Haga Yui ihre Stimme, ihren Körper oder ihre Unterschrift leihen. Sie wurde von der Redaktion “Midnight Radio” der Privatradiostation Bunka Hôso konstruiert, nachdem ein Rückgang in der Beliebtheit ‘wirklicherer’ Idols verzeichnet wurde. Der Radio-Moderator fragte seine Hörer, was für eine Art Mädchen sie gern als jüngere Schwester oder Freundin haben würden. Aus den Antworten und aus existierenden Idols schufen sie ein ideales Idol. Dann tauchte erst ihre Stimme im Radio auf, später Photos, eine Biographie, das ganze Material, das Fan-Clubs von einem Idol erwarten. Bei ‘live’-Konzerten bleibt ihr Gesicht verborgen und ihre Stimme kommt vom Play-Back. Sie ist eine Assemlage ganz ähnlich den Puppen im bunraku.28 Als Haga ein Photo-Buch veröffentlichte, saßen drei Mädchen bei den Autogrammstunden. Käufer stellten sich vor derjenigen an, die sie für die ‘wirklichere’ Haga-chan hielten. Eine Ausstellung mit ihren ‘original’ Kunstwerken, die Anfang November 1990 die Tore öffnen sollte, wurde vertagt. Aber Gerüchte wußten bereits vorher, daß die auszustellenden Gemälde von namhaften Künstlern in ihrem Namen geschaffen worden waren. Der Titel der Ausstellung sollte lauten: “Does mysterious idol dream of human faced sheep?”

Das ist natürlich eine bösartige Hommage an Philip K. Dicks Buch “Do Androids Dream of Electric Sheep?”, das Ridley Scott als Vorlage für den Film “Bladerunner” diente. Die These vom Beginn unserer Überlegungen, daß die otaku ein ständiges Spiel auf der Grenzlinie zwischen Belebtem und Unbelebtem vollführen, scheint sich zu erhärten. Der etwas altmodischer Begriff ‘Android’ ist zutreffend für Haga Yui wie für die otaku selbst. Sie sehen menschlich aus, sind es aber nicht. Und sie spielen mit Faktoiden (sehen aus wie Fakten, sind es aber nicht29. Das Idol zieht ihre gefügige Gefolgschaft an der Nase herum. Verständlich, daß diese ihrerseits Puppen suchen, deren Fäden sie ziehen können.

Idole wie MORITAKA Chisato erscheinen in verkleinertem Maßstab, aber nur unwesentlich mehr Plastik in der Form von Modellbausätzen. Die Modell-otaku beherbergen eine große Vielfalt von wirklichen und fiktiven Entitäten in ihrer Miniaturwelt: Modelle von Idolen und Comic-Figuren, Godzilla und Garland, Automobile und Militaria. Wiederum unterscheidet der wirkliche otaku sich vom bloßen maniaku dadurch, daß er sich nicht mit den kommerziellen Bausätzen zufrieden gibt. Die Garagen-Versionen, die sie in geringen Auflagen produzieren, sind meist sehr viel detaillierter und ausgefeilter. Eines der wichtigsten Magazine für den Modell-otaku mit einer Auflage von ‘nur’ 40.000 trägt den unwahrscheinlichen Titel “Do-pe. Identitity Magazine For You”.

Computer- und Techno-otaku

Man könnte den Eindruck bekommen, daß alle otaku Techno-Fanatiker sind, aber sie haben nicht per se eine Abneigung gegen die Natur. Es gibt sogar otaku, die sich mit tropischen Fischen oder mit Fossilien befassen – solange sie es nur auf die otaku-Weise tun. Was zählt ist allein die Haltung, nichts weiter.

Aber es kann keinen Zweifel geben, daß die meisten Zweige der otaku eine enge Beziehung zu Medien und zu Technologie haben. Dabei spielt die universale Informationsmaschine Computer natürlich eine zentrale Rolle. Von otaku-Bulletin Boards, Game-otaku und Hacker-Programmierern (im Weizenbaumschen Sinne) war bereits die Rede. Zur Bedeutung der noch kleinen Gruppe von Hackern im heute gebräuchlichen Sinne befragte ich ITOO Gabin, Redakteur von “Log In Magazine” (bei dem auch Kushida Riko arbeitet, s.o.) und vor kurzem Kurator der “Tôkyô Hyper-Real” Ausstellung. Da sein Photo regelmäßig in “Log In”, der wichtigsten Zeitschrift für Game-Fans zwischen 13 und 18 Jahren mit einer verkauften Auflage von 180.000 Exemplaren im Monat, erscheint, wurde er zu einem Helden der Computer-otaku. Wenn er auf der Straße in Tôkyôs Elektronik-Stadtteil Akihabara gesichtet wird, spricht ihn niemand direkt an, aber kurz darauf kann er in einem otakki Bulletin Board die ‘heiße’ Info lesen “Ich habe Gabin gesehen!”.

Die Bedeutung von Technologie, erklärt Itô, ist diese: Wenn wir etwas herausfinden, was eigentlich unmöglich ist, machen wir es. Der Hacker, der herausfindet, wie man Daten zerstört, macht es, ohne über den Sinn nachzudenken. In der gleichen Art verbreiten sie Viren zum Spaß. Wenn einer von ihnen einen Weg findet, sich in den Kopierschutz von DAT Rekordern zu hacken, so hat es nicht den Sinn, Musik zu kopieren. Dem wirklichen Techno-otaku sagt Musik nichts. Es ist nur ein Spiel – sinnlos. Wenn sie solche Schutzsysteme knacken können, sind sie dann nicht ziemlich schlau? ‘Otaku‘ ist nicht gerade synonym zu ‘kreativ’, aber viele kreative Leute sind otaku. Itô glaubt, sie haben unbegrenzte Möglichkeiten.

Das ultimative Versprechen der Technologie ist es, uns zu Meistern der Welt zu machen, die wir per Knopfdruck beherrschen. Die otaku sind die Avantgarde, die diese Welt erforschen. Sie sind aufgewachsen in einem mit Medien gesättigten Milieu. Jetzt benutzen sie sie als ihr natürliches Habitat für instantane Befriedigung von Bedürfnissen – Bedürfnisse, die sie natürlich nur auf das richten, was die Medien geben können. Die Zeitstruktur der otaku-Welt ist eine von ständiger technischer Verfügbarkeit. Diese Haltung des Konsumerismus wird selbst auf andere Menschen angewendet, was eine mögliche Erklärung für den intensiven Gebrauch des Telephons zu jeder Tages- und Nachtzeit sein könnte.

Der reine Techno-otaku hat sein Fachblatt in “Radio Life”. Es begann als Zeitschrift für Radio-Amateure, die in akushon-bandaa (action bander) umbenannt wurden, was angesichts ihres ansehnlichen subversiven Potentials angemessen erscheint. “Radio Life” enthält Konsum- und Hintergrundinformationen über elektronische Geräte und Bauteile. Zum Beispiel über Radarsysteme und -Detektoren für Auto- und Motoradfahrer. Oder eine Beschreibung eines Geräts, das den digitalen Kopierschutz bei einigen Leih-Videos umgeht. Oder ein Artikel über das Ablauschen von Satelliten. übrigens: Anläßlich der Inthronisierung von Tennô Akihito wurden Störsender der trotzkistischen Gruppe Shûkakuha (Mittlere Kernfaktion) auf strategischen Dächern um den kaiserlichen Palast herum entdeckt, mit denen sie die Live-Übertragung der Zeremonien unterbrechen wollten. Es ist also keineswegs so, daß niemand diese subversiven Informationen in der Praxis anwenden würde.

Einmal im Jahr bringt “Radio Life” eine noch konzentriertere Sondernummer, “ura RL” (Untergrund RL), heraus. Die jüngste Ausgabe enthält eine Selbstbauanleitung für einen elektronischen Bomben-Zeitzünder. Der nachfolgende Artikel handelt von Modellbausätzen für Handgranaten (z.B. das original deutsche WK2 Modell oder vielleicht lieber das klassische Design der amerikanischen MK2, das auch als Joystick zu haben ist?). Der nächste ist eine Anleitung, wie man eine Stun-Gun (Elektroschocker) aus dem Blitz-Kondensator einer Wegwerf-Kamera baut; damit kann man seinem otaku-Kollegen einen 35.000 – 80.000 V Schock verpassen. Mein abschließendes Beispiel aus diesem Abgrund hackeristischer Niedertracht ist das Platinen-Layout für einen Adapter, der den DAT-Kopierschutz umgeht (ein gemeiner kleiner Kompromiß der Musik- und der Elektrogeräteindustrie, der nur digitale Cassettenkopien von CD erlaubt, aber Kopierversuche von diesen digitalen Cassetten vereitelt – die Art von Mißbrauch von Technologie, die geradezu danach schreit, gehackt zu werden.) In der “Untergrund Radio Life” bekommt der otaku mit subversiven Ambitionen eine komplette Beschreibung, wie es funktioniert und wie es zu umgehen ist.

Ein anderes Klientel von “Radio Life” sind Militaria- und Polizei-otaku. Dabei handelt es sich um Mädchen, die Original-Uniformen von Politesse tragen und Jungs, die in 99,9% ‘echten’ Streifenwagen herumfahren. Die Anzeigen in “RL” zeigen, wo die Sirenen, Funkgeräte, Dienstmarken, Accessoires bis hinunter zur offizielle Trillerpfeife und Krawattennadel herkommen. Ausgenommen sind allein die Pistolen, und selbst die sind originalgetreue Plastik-Modelle. Alles andere ist authentisch, so echt, wie die Dinge, die die echten Polizei- oder Militäreinheiten benutzen, schlicht weil die otaku sie von den gleichen Händlern beziehen, bei denen auch der Staat einkauft. Wenn das Wirkliche und das Imaginäre ununterscheidbar geworden sind, wird das Original zum Fetisch.

Ich denke nicht, daß solche Publikationen Ausdruck von echten militaristischen oder militanten Absichten sind, noch handelt es sich um die Lockungen des Verboten an sich. Natürlich fordert es geradezu zum Hacken auf, wenn jemand versucht, die volle Ausnutzung vorhandener Technologie zu verhindern, z.B. durch Kopierschutz oder Scrambling von Signalen. Sicher finden otaku auch einfach Gefallen daran, Technologien für andere als die vorgesehenen Zwecke zu gebrauchen. Aber im Grund ist es eine leere, inhaltslose Freude an Technologie und Information, die sie treibt. In dem Sinne gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen Game-otaku und Funk-Hackern, Idol-otaku und Magnetkartenfälschern. Die Struktur ist dieselbe. Wesentlich für jeden otaku ist ein Netz von technischem Detailwissen, ob über Kameras oder Polizeiautos, über fiktive Raumschiffe oder ‘Art Trucks’ (kunstvoll austaffierte LKWs). Kenntnisse sind wichtig, um kommunizieren zu können. Information ist die Essenz des otaku-lifestyle.

Obwohl minimale Diskrepanzen auf der informationellen Ebene immense Konsequenzen für otaku haben können, scheinen sie weniger wählerisch zu sein was ihren Stil betrifft. Krieg und Sex, Fantasien von Massenmord und Vergewaltigung tauchen regelmäßig in ihren Medien auf. Und manchmal findet es einer von ihnen schwer zu unterscheiden zwischen einer Welt, in der niemand stirbt, weil alle ohnehin nur Phantome sind, und jener anderen, in der kleine Kinder, wenn man sie foltert, tatsächlich sterben. Itô erzählte mir die Geschichte von einem Jungen, der vollständig in einer Computer-Welt lebte. Eines Tages sah er einen Mann auf dem U-Bahnsteig stehen und – ohne einen Grund – stieß er ihn vor den einfahrenden Zug. Er dachte nicht an den Tod, sagt Itô, es war so einfach.

Exkurs: otaku-Verbrechen

Im Juli 1989 wurde MIYAZAKI Tsutomo (Jahrg. 1963) unter dem Verdacht verhaftet, vier Mädchen zwischen vier und sieben Jahren entführt und ermordet und ein weiteres Mädchen belästigt zu haben. In seinem Zimmer in Tôkyô fand man Stapel von manga und eine Sammlung von 6000 Videotapes, meist kopierte Bänder aus Videotheken, darunter Kinder-Pornographie und Horrorfilme. Er war sozial isoliert, wagte es nicht, Frauen anzusprechen, jobbte als Druckereigehilfe, und zeichnete Comics – eine einfache Gleichung, ihn als otaku zu identifizieren.

Kurz nach seiner Verhaftung wurde der Verdacht laut, daß Miyazaki bei seinen Taten Szenen aus Horro-Videos nachgestellt habe, wie diejenige in der jemand eine Frau zerschneidet, die zerstückelte Leiche streichelt und mit den Gedärmen spielt. Miyazaki gestand die Morde zu Beginn der Gerichtsverhandlung am 30. März 1990 ein. Er stritt ab, daß er von Filmen beeinflußt wurde, sagte jedoch, daß er Videoaufnahmen von zweien seiner Opfer gemacht habe, um sie sich später anzusehen. Er sagte auch, daß er die Taten wie in einem Traum und ohne Vorsatz beging.

Die Verteidigung machte geltend, daß der Angeklagte emotional unreif sei und Schwierigkeiten habe, einen Unterschied zwischen sich und anderen zu machen. “Es mangelt ihm an einem Verständnis von Leben und Tod, und er hat ein starkes Bedürfnis, in den Schoß seiner Mutter zurückzukehren.” Die Verteidigung argumentierte weiter, daß die audiovisuelle Kultur von Video und Fernsehen, ein mangelnder Sinn für Realität in der Informationsgesellschaft und die Isolation von Jugendlichen als Krankheiten der modernen Gesellschaft den Hintergrund des Verbrechens abgäben. Das Ergebnis eines ersten psychiatrischen Gutachtens war, daß Miyazaki über geringe Selbstkontrolle verfügt und daß es ihm an Emotionen mangelt, aber daß er in der Lage ist, für seine Taten zur Verantwortung gezogen zu werden. Das Urteil in dem Verfahren steht noch aus.

Der Tenor der öffentlichen Diskussion über diesen otaku-Mordfall war, daß die Horror-Videos und die Medienkultur auf eine diffuse Weise verantwortlich sind. Als Reaktion auf den Fall begann die Stadtregierung Tôkyôs, Zugangsbeschränkungen für Minderjährige zu Videos, die Gewaltszenen enthalten, zu erwägen. Der Video-Markt übte freiwillige Beschränkungen aus.

Die Kommentare der Kulturkritiker spalteten sich grob entlang zweier Argumentationslinien. Entweder, Miyazaki war eine kranke Ausnahmeerscheinung und damit ein Fall für die Psychiatrie. Oder, er ist Produkt der herrschenden Kultur und damit steckt ‘in jedem von uns’ ein Miyazaki. Diese Argumentationsweisen werden häufig vorgebracht, wenn die japanische Kultur sich mit einem Nagel auseinandersetzen muß, der heraussteht: entweder man schließt ihn als etwas außergewöhnliches – bevorzugt nicht-japanisches – aus, oder man erweitert die Definition des ‘wir’ – des minna –, um ihn mit einzuschließen: “Wir alle sind Miyazaki”.

Yamazaki zufolge sind beide überhasteten Schlußfolgerungen fehl am Platze.

“Wir wollen ihn verstehen, aber wir wissen, daß wir es nicht tun. Jeder fragt ‘Warum hat er es getan?’, aber wir sollten lieber fragen ‘Warum tun wir es nicht?’. Viele otaku haben den gleichen Lebensstil wie er, aber ich glaube nicht, daß sie so etwas tun würden. Miyazakis Biographie ist nicht außergewöhnlich. Er konnte nicht mit Frauen kommunizieren, aber das ist nichts besonderes. Es wurde gesagt, er lebe in einer Fantasiewelt, aber vielleicht leben wir alle in einer Fantasie. Ich glaube nicht, daß er verrückt ist, weil ich einen Teil von ihm verstehen kann. Deshalb habe ich Angst. Aber ich bin kein Moralist. Viele Japaner glauben, daß Miyazakis Motivation im Zusammenhang steht mit unserem täglichen Leben mit Medien und Information und mit unseren menschlichen Beziehungen. Deshalb sind wir schockiert.”

Hin zu postmodernen Menschen

Die Meinungen über die gegenwärtige Entwicklung des Begriffs ‘otaku‘ gehen auseinander. Der Fall Miyazaki hat der ohnehin nicht sehr schmeichelhaften Reputation der otaku sicherlich einen weiteren Schlag versetzt. ‘Seht ihr, wir haben diesen jungen Leute noch nie über den Weg getraut. Jetzt erlebt ihr, wozu sie in der Lage sind!’ Wir müssen den weiteren Verlauf des Verfahrens abwarten, um sagen zu können, ob die Gesellschaft es benutzen wird, um Druck auszuüben oder die otaku zu diskrimieren.

In einer gegenläufigen Bewegung hat sich die Bandbreite des Begriffs immer mehr ausgeweitet. Bezeichnete er zu Beginn ein scharf umrissenes Lebensgefühl, schloß er nach und nach immer mehr Phänomene ein, bis er die Funktion des Allerweltsbegriffs ‘maniaku‘ (engl. maniac) übernommen hat. So kann man heute austauschbar von Motorad-, Stereo-, Golf- oder Musik-maniaku oder –otaku sprechen. Früher bezog sich ‘maniaku‘ auf Leute, die offen für Kommunikation sind und andere Interessen neben ihrem besonderen Faible haben. Beide Punkte trafen auf otaku nicht zu. Darüberhinaus wurde ‘otaku‘ nie als Selbstbezeichnung verwendet, immer nur für andere. Jetzt können wir beobachten, wie sich durch die inflationäre Verwendung des Begriffs Schichten von Konnotationen übereinander ablagern. Es scheint für alle Debatten über das Verständnis des Selbst und der anderen zuzutreffen – sie werden ausgeweitet und aufgeblasen, bis jeder darunter Platz hat. Wir sind alle moratoriumu ningen. Wir sind alle otaku. Wir sind alle Miyazaki. Am Ende verlieren sie jegliche Trennschärfe und werden durch neue Schlagwörter ersetzt.

Ein anderer Trend wird durch das Auftauchen der adjektivischen Form ‘otakki‘ markiert. Yamazaki vermutet etymologische Beziehungen zum älteren ‘teki‘, was eine Kontraktion aus ‘technology kids’ ist. Das “Grundwissen” belehrt uns:

“Nachdem Miyazaki ‘otaku‘ verdorben hat, ist ‘otakki‘ erfunden worden, um die ursprüngliche Bedeutung und den Bedeutungswandel des Wortes zu bezeichnen. Die otaku sind auf ein neues Niveau übergegangen, wo Leute teure, elegante Yuppy-Kleidung tragen. Die otakki Menschen versuchen ihr Image von etwas Dunkelem zu etwas Hellem aufzubessern.”

Das “Grundwissen” ist die einzige Quelle, die eine Yuppifikation der otaku verzeichnet, aber daß sie eine etwas positivere Bedeutung angenommen haben – selbst Miyazaki zum Trotz – wird weithin bestätigt. Obwohl die dafür genannten Gründe wiederum variieren. Einige sagen, die Gesellschaft hat begriffen, daß sie otaku braucht. Ihre Fantasie und ihr detailiertes technisches Wissen macht sie zu sehr attraktiven Angestellten, z.B. in der Software-Industrie. Die otaku passen sehr gut in den japanischen Kapitalismus. Wie so oft zuvor könnte sich ein Untergrund als Testgelände erweisen, aus dem der kommerzielle Mainstream sich mit frischen Ideen versorgt. Die vormaligen Wirklichkeits-Hacker verabschieden sich von ihrem otaku Leben, betreiben ihre sinnlose Leidenschaft fortan professionell und – heiraten schließlich vielleicht sogar.

Wiederum andere versuchen, ‘otaku‘ eine alternative Bedeutung zu geben. Sie verwenden den Begriff strategisch, um die un-eindeutige Möglichkeit eines Lebensstils in der postmodernen Gesellschaft zu bezeichnen – ein Weg, positiv mit Medien und ohne Sinn zu leben. Tsuzuki sagt:

Otaku ist eine Art Engagement, ein Untergrund-Weg, die Ideen über die Welt zu verändern. Die Otaku sind nicht damit zufrieden zu konsumieren. Sie wollen die Dinge und die Programme verändern. Sie sind sind so engagiert. Die Idol-Industrie will Konsumenten haben; otaku über-erfüllen ihren Wunsch. Die Informationsflut der Medien wird von ihnen noch überboten. Sie nehmen Informationen schneller auf, als die Medien sie liefern können. Andere blättern in Zeitschriften, otaku verschlingen sie. Sie haben die Medien hinter sich zurückgelassen. Das, was für andere bereits Informationsüberlastung darstellt, ist für sie ein Kinderspiel. Sie warten bereits gierig auf VLSI und Breitbandnetze. Sie sind ein Motor für die Industrie. Sie machen sich nicht für eine klassische Konfrontation stark, aber sie sind zu einer alternativen Weltsicht in der Lage.”

Yamazaki sieht sie zwiespältiger. Seiner Meinung nach werden sie sowohl unter- wie überschätzt. In einem gewissen Sinne sind sie typische Japaner.

“Sie sind keine drop-outs, sondern Teilzeit-Außenseiter. Ich frage mich, ob otaku eine neue Kultur schaffen werden. Es ist eine Art Experiment, aber ich denke, daß die otaku die einzige Möglichkeit sind. Ob sie ein subversives Potential haben? Ich hoffe. Ich hoffe, daß sie zu wirklichen shinjinrui werden, eine neue Art von Japanern, will sagen, postmoderne Menschen.”

Am Ende werfen wir die Frage auf, ob eine posthumanistische Existenzweise möglich ist; ob es möglich ist, außer sich zu sein, ohne den Verstand zu verlieren, im Cyberspace zerstreut und das Leben dennoch lebenswert zu finden, und ob es ein subversives Element in der postmodernen Medienkultur geben könnte. Bedauerlicherweise antwortet das Objekt unserer Nachfrage nicht. Das Zentrum der Kommunikation reflektiert nicht auf sich, es ist der blinde Fleck ohne den wir nicht sehen können. Nach einer Definition gefragt, antwortete ein selbsterklärter otaku: “Die Frage ‘Wer ist otakki?’ ist wie die Zen-Frage ‘Was ist satori?’ Sie kann nicht beantwortet werden, weil satori wesenmäßig das ist, was nicht kommuniziert werden kann.”

 

***

 

Endnoten

1 Besonderen Dank an Ina Kotarô, Barbara Pizziconi, Alfred Birnbaum, Yano Yutaka, David D’Heilly und Ueno Toshiya. Natsume Fusanosuke hat den Otaku-Forscher bei der Arbeit portraitiert.

2 Förderungsantrag des Kasseler Forschungsprojektes zur Wechselwirkung von literarischen und technischen Medien, 21.10.88.

3 Die Behauptung von der Dematerialisierung der Welt ignoriert vollkommen, daß ausgerechnet die Materialwissenschaften, neben I & K-Technologie und Genforschung zu den expansivsten und best-geförderten F & E-Zweigen gehört. Vgl. Eric Drexler, UCLA; Helena Lastres, University of Sussex.

4 Die beiden Aufzählungen des Verschwindens und der Wiederkehr erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind von jedem Leser nach Belieben zu erweitern.

5 Interdisziplinarität steht überall hoch im Kurs. Synthese von Kunst, Wissenschaft und Technologie wird als Ausweg einer Zerfaserung gesehen: das ‘elektronisches Bauhaus’, das Gesamtkunstwerk, Leonardo da Vinci, s. z.B. Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, FfM 1991 15f.

6 Die These, daß alle Informationen in elektronischen Speichern zugänglich und daher das Gehirn, von Datenverarbeitung entlastet, frei für kreative Denkprozesse geworden ist, z.B. Flussers These. Siehe auch ministeriale Konzeptpapiere zur Informations-Gesellschaft.

7 Die Adaption westlicher politischer, industrieller, Bildungs-, Forschungs-Institutionen usw. fand im wesentlichen in den 70er und 80er Jahren des 19.Jahrhunderts statt. Die These, Japan müsse darüber hinaus in eine Auseinandersetzung mit deren geistigen Ursprüngen eintreten, zugespitzt: es müsse ein ‘Subjekt’ ausbilden, um eine Wiederkehr des Militarismus zu verhindern und eine ‘wahre’ Demokratie zu etablieren, fand seinen stärksten Ausdruck in den Nachkriegsjahren. Bekanntester Vertreter dieser These ist Maruyama Masao (Vgl. Maruyama, Denken in Japan, FfM 1988), der in der aktuellen Debatte jedoch keine Rolle mehr spielt.

8 Vgl. Orrin E.Klapp, Overload and Boredom. Essays on the Quality of Life in the Information Society, N.Y., London etc. 1986.

9 Otaku no hon. Takarajima Nr. 104, JICC Verlag, Tôkyô 1990. Siehe ebenfalls Taku Hachirô (Pseudonym), Ikasu! Otaku tenkoku (Super! Otaku-Paradies) Oota Verlag, Tôkyô 1991.

10 Japanische Begriffe bleiben in Umschrift stehen, nicht aus Gründen japanologistischer Spitzfindigkeit, sondern um zu verhindern, daß durch Eindeutschung ein irreführender Bekanntheits- oder deja vu-Effekt entsteht. Da sie im Verlauf des Textes immer wieder auftauchen, ist ein Wort über diese ‘Janglish’ (Japanese-English) Begriffe angebracht. Im Japanischen werden Fremdwörter, heute vor allem aus dem Amerikanischen, in katakana umgeschrieben. Dieses Silbenschriftsystem ist in der Aussprache identisch aber graphisch verschieden von der ‘japanischen’ Silbenschrift hiragana. Die Hauptfunktion von katakana ist es, das Andere der japanischen Sprache in sie hineinzuholen und zugleich in einem getrennten Zeichenraum einzuschließen. Daher ist das Fremde in einem japanischen Text auf den ersten Blick sichtbar, sticht graphisch hervor. Kennzeichnend für die Umschrift mithilfe der phonetischen Bausteine der Silbenschrift ist, neben dem berüchtigten ‘l/r’-Problem, die Notwendigkeit hinter jedem Konsonanten einen Vokal einzufügen, z.B. kosu-purei aus ‘costume play’, wobei das japanischen purei ein zusätzliches ‘u’ zwischen ‘p’ und ‘l’ erhält. Das japanischen Gefühl für die angemessene Länge von Wörtern führt häufig zu Stutzungen und Kontraktionen, z.B. rori-kon von ‘Lolita complex’ (Rorita konpurekkusu). Katakana werden weiterhin verwendet für Kombinationen von japanischen und englischen Wörtern, z.B. kuchi-komi (mündliche Kommunikation) aus dem japanischen ‘kuchi’ (Mund) plus ‘komiyunikeeshon’; und für entfremdete japanischen Wörter, z.B. otakki, einer Adjektivform fabriziert aus ‘otaku’ plus der englischen Adjektivendung ‘-cky’.

11 aus der seit 1990 die Luft entweicht.

12 “Moratorium ningen no jidai”, in der für die geistes- und sozialwissenschaftlichen Debatten in Japan zentralen Zeitschrift Chûô Kôron, October 1977, zitiert nach der gekürzten englischen übersetzung in Japan Echo Vol.V, No. 1, 1987.

13 Okonogi, Jahrg. 1930, Professor an der neuropsychiatrischen Abteilung der Keiô Universität. Weiterhin bekannt geworden mit seiner Theorie vom ‘Ajase-Komplex’, einer besonderen Variante des Ödipus-Komplexes für die japanische Muttergesellschaft.

14 Tokyo 1980. Deutsch als “Kristall Kids”….

15
Norma Field in: MIYOSHI Masao, H.D.Harootunian (ed.), Postmodernism and Japan, Duke University Press, London 1989.

16 Peter Pörtner hat sie gezählt, s. Konkursbuch Japan I, Tübingen 1986.

17 Der Begriff ‘burikko’ wird unten unter ‘idols’ erläutert.

18 Gendai Yôgo Kisochishiki (Grundwissen der Gegenwärtigen Begriffe), Jiyûkokumin Verlag, Tokyo 1990.

19 Alle folgenden Zitate ohne Angaben stammen aus Interviews des Autors.

20 Chieizou (Schatz der Weisheit). Asahi Encyclopedia of Current Terms, Asahi Verlag, Tokyo 1990.

21 Die Wörterbuchübersetzung ist ‘alle, jeder’, aber nach Yamazakis Erklärung scheint es näher an Heideggers ‘man’ zu sein oder an ‘die Masse’, s. Christian Unverzagt, Masse und Bewegung, erscheint bei Edition ID Verlag.

22 Ima, chôtaishû no jidai, hrsg. von Parco Corp. Gekkan Akurosu Henshû Shitsu, Tokyo 1985, zit. nach: Marilyn Ivy, Critical Texts, Mass Artifacts: The Consumption of Knowledge in Postmodern Japan, in: Harootunian op.cit.

23 Ibid, S. 35.

24 Nach Shuppan Kagaku Kenkuyûjô (Jahrbuch des Forschungsinstituts für Publikations-Wissenschaften), Tokyo 1990.

25 Shunsuke TSURUMI, a Cultural History of Postwar Japan, 1945-1980, London 1987, S. 30.

26 Ibid S.44.

27 Ihab Hassan, Postmoderne Heute, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne, Weinheim 1988.

28 Vgl. Barthes Bemerkungen zum bunraku: Die Differenz, der Codebruch zwischen Musiker/Rezitator, dem sichtbaren Spieler und der Puppe wird nicht im Dienste einer Einheit überdeckt. Daß hier nichts verschleiert wird, “zerstört das metaphysische Band, das der Westen zwischen Seele und Körper, Ursache und Wirkung, Schicksal und Mensch, Gott und Geschöpf herzustellen nicht umhin kann. (…) Keine Fäden und folglich auch keine Metapher und kein Schicksal mehr.” (Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, FfM 1981 S. 85f.)

29 “Faktoid” ist ein Wortprägung von CNN für die Einblendung eines kontextfreien faktenartigen Informationshäppchens, z.B. “32 % aller US-Amerikaner wechseln ihre Unterwäsche alle drei Tage”.

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