Die öffentlich-rechtlichen Medien stehen vor zwei großen Herausforderungen: dem digitalen Medienwandel und dem Verlust des jungen Publikums. An ihnen entscheidet sich die künftige Legitimation des öffentlich-rechtlichen Systems insgesamt. Die Lage ist in ganz Europa ähnlich. In Deutschland hat die Politik einen mutigen Beschluss gefasst, um beide Fragen anzugehen. Auf ihrer Konferenz im Oktober 2014 beauftragten die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder ARD und ZDF, ein Angebot für 14- bis 29-Jährige zu konzipieren – ausschließlich im Internet, ohne Sendungsbezug, ohne Drei-Stufen-Test, ohne Verweildauerbeschränkungen und mit einem Etat von 45 Millionen Euro. Im Juni 2015 legten die Anstalten ihr Konzept vor.
Es handelt sich um nichts weniger als einen Paradigmenwechsel: den Bruch mit dem Primat des linear gesendeten Programms und der Sekundarität von Online. Mit der Jugendplattform ist die Verbindung zum Massenmedienmodell – einer sendet und alle sehen oder hören zu, das auch das vorangegangene trimediale Konzept eines Jugendkanals noch dominierte – aufgehoben. Da konvergiert nichts mehr. Mit der Jugendplattform hat die Institution öffentlich-rechtlicher Rundfunk ihre medientechnologischen Wurzeln hinter sich gelassen und ist im Netz angekommen. Oder in den Worten von ARD-Chef Lutz Marmor „Zukunftsweisend ist dabei, dass die Beschränkungen im Internet wegfallen.“ (ARD-PM 17.10.14)
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Update 2: Am 18. Juni hat Hyperbole den Grimme Online Award in der Kategorie Kultur und Unterhaltung gewonnen. Glückwunsch!
Damit hat sich auf verblüffende Weise eine aus medienwissenschaftlicher Sicht ebenso unabweisbare wie unrealisierbar erscheinende Grundannahme verwirklicht, die das Forschungsprojekt Grundversorgung 2.0 seit seinem Beginn begleitet: Grundversorgung muss da stattfinden, wo Bürgerinnen und Bürger sich zunehmend ihre Meinung bilden: im Internet (These 0). Folglich lautet einer unserer zentralen Leitgedanken: „Den grundgesetzlichen Rundfunkauftrag vom Internet aus neu denken.“ Im gleichen Sinne schauen seit Oktober die Ministerpräsidenten, – wie die rheinland-pfälzische Landeschefin und Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder Malu Dreyer es ausdrückte –, auf den Grundversorgungsauftrag durch die Online-Brille, statt durch die Fernsehbrille (epd medien, 24.10.2014). Was immer die Ministerpräsidenten bei ihrer überraschenden Entscheidung geritten haben mag, sie öffnet einen willkommenen Freiraum für unvorbelastete Experimente und wichtige Debatten über die Zukunft der journalistisch-redaktionellen Selbstbeobachtung der Gesellschaft.
Mit Boris Becker anno 1999 können die öffentlich-Rechtlichen und mit ihnen wir alle, – die Bürgerinnen und Bürger, die sie beauftragen, bezahlen und kontrollieren, – ausrufen: Wir sind drin!
Oder zumindest auf dem Weg rein. Im März gaben die Intendanten bekannt, dass Florian Hager, bis dato stellvertretender Programmdirektor von Arte, das Online-Jugendangebot leiten wird. ARD und ZDF erarbeiteten ein Konzept, das Ende April von den ARD-Intendantinnen und -Intendanten abgesegnet wurde. Ende Mai stimmten die Aufsichtsgremien des auf ARD-Seite federführenden SWR und des ZDF ihm zu. Das Konzept „auf mittlerer Abstraktionsebene“, wie der Vorsitzende des SWR-Verwaltungsrates Hans-Albert Stechl auf dem Medientreffpunkt Mitteldeutschlands erläuterte, wurde von Horizont am 03.06.2015 geleaked. Seither kann auch öffentlich darüber diskutiert werden. Im Kern soll das Jugendangebot ein „Content-Netzwerk“ auf Drittplattformen wie Facebook und Youtube mit einer schlanken eigenen Landing-Page werden – eine ebenso nachvollziehbare, wie problematische Strategie. Als nächster Schritt werden die Anstalten das Konzept den Auftraggebern in der Politik vorgelegen: Am heutigen 17. Juni wird die Rundfunkkommission der Länder in Berlin darüber beraten.
Nicht zuletzt soll das Jugendangebot dazu dienen, ARD und ZDF insgesamt zu verjüngen. Es ist das Nadelöhr, durch das das öffentlich-rechtliche System muss, um weiter bestehen zu können. Simple Demographie zeigt, dass bei einem aktuellen Altersdurchschnitt jenseits der 60 in 20 Jahren die letzte Zuschauerin das Licht ausknipsen wird. Bei diesem vermeintlich ‘nur’ auf die 14- bis 29-Jährigen gerichteten und mit ursprünglich 45, jetzt nur noch 43,7 Millionen Euro im Jahr spärlich dotierten Angebot geht es also um Ganze, um Sein oder Nichtsein öffentlich-rechtlicher Medien.
Zusammenfassung
Im Folgenden möchte ich zunächst den Hintergrund der aktuellen Entwicklung darstellen. Ein Jugendangebot muss von der Frage nach dem Objekt seiner Begierde ausgehen. Über die 14- bis 29-Jährigen sind recht unterschiedliche Auffassungen im Umlauf. Was wissen wir über sie? Daran schließen sich Überlegungen zu einer öffentlich-rechtlichen Jugendplattform an aus Sicht des Forschungsstandes, aus den Erkenntnissen des Forschungsprojekts „Grundversorgung 2.0“, sowie den aktuellen Debatten und den Erfahrungen mit unseren eigenen Formatexperimenten.
Bei den Themen wird vorgeschlagen, das Konzept zu erweitern um Nachrichten, Europa, Multikulturalität, Wissensarchive und Medienkompetenz. Kooperationen mit der Wikipedia und mit den Bürger- und Ausbildungskanälen bieten sich ebenso an, wie eine Online-Konsultation der Zielgruppe. Das Dilemma von monopolistischen, datenschutzverletzenden Sozialen Netzen als alternativlosem Weg zu den U30 wird behandelt, und es wird darauf hingewiesen, dass das Jugendangebot als Teil des Ökosystems Internet auch bei Fragen von Zugang, Netz- und Suchneutralität mit Aufklärung und gutem Beispiel vorangehen solle.
Schließlich wird die These aufgestellt, dass nur, wenn es gelingt, den jungen Beitragszahlern den kategorialen Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichen und kommerziellen und zivilgesellschaftlichen Angeboten kenntlich und verständlich zu machen, sich der mediale Gesellschaftsvertrag gegen die wachsenden Anfeindungen in das Internet-Zeitalter wird fortschreiben lassen.
Inhalt
- Vorgeschichte
- Inhalte, Themen, Interaktionen
- Soziale Netzwerke
- Ökosystem
- Öffentlich-rechtliche Medien sind kategorial vom Markt verschieden
- Fazit
Vorgeschichte
Wir sind noch nicht ganz drin, denn bis das Jugendangebot startet – Mitte 2016 ist angekündigt, Mitte 2017 wahrscheinlicher –, sind noch einige Hürden zu nehmen. Aber es hat bereits einen langen, steinigen Weg zurückgelegt.
Der „Generationenabriss“ setzt schon 1984 mit Beginn des dualen Systems ein, als das junge Publikum zu den neuen privaten Sendern abwanderte. Im Radio wurde schnell darauf reagiert. Schon 1987 ging mit Radio Bremen 4 der erste Hörfunkkanal für Jugendliche auf Sendung. Heute haben alle Länderanstalten ihre Jugendwellen: 1 Live (WDR), Fritz (RBB), Sputnik (MDR), N-Joy (NDR) usw. Im Fernsehen gab es einzelne Jugendsendungen, bis zurück zum 1965 gestarteten Beat-Club, doch bis zu Kanälen mit jungem Schwerpunkt dauerte es noch fast dreißig Jahre.
Mitte der 1990er trat das Internet als Konkurrent um die Aufmerksamkeit der U30 hinzu. Zehn Jahre später setzte die Webvideo-Revolution ein, vor allem mit dem 2005 gegründeten und 2006 von Google gekauften Youtube.
Ab 2005 ist der Generationenabriss Dauerthema in den Anstalten. Der damalige ZDF-Intendant Markus Schächter hielt im Oktober 2005 eine Brandrede für eine Digitalstrategie sowie dafür, die Zuschauerstruktur zu verjüngen. „Es geht ausschließlich darum, den Kontakt zu jüngeren Publikumsgruppen nicht zu verlieren und perspektivisch einen Generationenabriss im ZDF-Publikum zu verhindern“ (FK 41/2005). Digitalität und Jugend wurden also noch getrennt gedacht.
Volker Giersch, damals Vorsitzender der Konferenz der Gremienvorsitzenden und des SR-Rundfunkrats legte im ARD-Jahrbuch 2008 einen Grundsatztext nach: „Ein nur noch seltenes Paar. öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Jugend – Strategien gegen den Generationenabriss“. Darin warnt er vor einer Spaltung der TV-Öffentlichkeit: Ältere sehen die Öffentlich-Rechtlichen, Junge die Privaten. Und er drängte zur Eile. Die Akzeptanz des ganzen Systems sei gefährdet, Mediennutzung präge sich in der Jugend. Es brauche Zeit, angemessene Formate zu entwickeln. Dafür werden laufend Erkenntnisse aus Medien- und Jugendforschung benötigt, die ebenfalls Zeit brauchen. Giersch plädierte für einen behutsamen Umbau. Einen eigenen Jugendkanal, wie vom damaligen MDR-Intendanten Udo Reiter vorgeschlagen, hielt er nicht für zwangsläufig. Er würde Zuschauer in einen Spartenkanal abdrängen, statt das Hauptprogramm zu verjüngen. Giersch schlägt Innovationswerkstätten und Kooperationen mit Bildungseinrichtungen vor und denkt nun endlich den Zugang zur Jugend vom Internet aus. „Auf das Nutzungsverhalten der Jugend zugeschnittenen Internetangebote versprechen Erfolg. Denn die Jugend legt großen Wert auf die spezifischen Möglichkeiten, die das Internet bietet – etwa auf autonome Recherchemöglichkeiten, Interaktivität, zeitsouveräne Nutzung, Podcasts, Chats und Communities.“ (ebd., S. 28) Alle jungen Hörfunkwellen der ARD würden inzwischen mit einem Online-Portal begleitet, das die 26- bis 35-Jährigen tatsächlich erreiche und dazu beitrage, „die Jugend mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ‘bekannt zu machen’ und für weitere Angebote – auch aus dem TV-Bereich – zu interessieren.“ (ebd.)
Der erste öffentlich-rechtliche Internet-Auftritt war 1996 ARD.de (in der WayBackMachine). Neben Gewinn- und Hörspielen bot die Site Videotext im Internet. Die Mediathek des ZDF startete 2001, die der ARD 2008.
Zwischen den beiden Mediatheken lag eine dramatische europarechtliche Zäsur. Von 2002 bis 2004 reichten der Verband Privater Rundfunk und Telemedien e. V. (VPRT) und seine größten Mitglieder Beschwerden bei der EU-Kommission ein. Sie richteten sich insbesondere auf bestimmte Online-Dienste, die mutmaßlich nicht unter den öffentlich-rechtlichen Auftrag fielen und damit gegen europäisches Beihilferecht verstießen. Ergebnis des Verfahrens war der Beihilfekompromiss von 2007. Darin sagte Deutschland zu, die öffentliche Beauftragung durch ein dreistufiges Prüfverfahren für alle neuen oder veränderten digitalen Angebote der öffentlichen Rundfunkanstalten zu präzisieren. Für jedes Angebot ist demnach zu klären, „dass es (1) zum öffentlichen Auftrag gehört und damit die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen einer Gesellschaft entspricht [sic], dass es (2) in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beiträgt und dass (3) der Aufwand für die Erbringung des Angebotes vorgesehen ist.“ (ebd.: Rnd.nr. 328) Bei diesem fast wörtlich im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom Dezember 2008 übernommenen Drei-Stufen-Test hat der Public-Value-Test der BBC Pate gestanden. Als Folge der neuen Regel musste das ZDF mehr als achtzig Prozent seiner Online-Inhalte ‘depublizieren’ (Dörr in Donders/Moe 2011: 79; zum Wandel in der Konzeption von informationeller Grundversorgung vgl. Grassmuck, Von Daseinsfürsorge zu Public Value, 2014).
Im selben Staatsvertrag sind außerdem nichtsendungsbezogene presseähnliche Angebote der Anstalten, also solche, „die nach Gestaltung und Inhalt Zeitungen oder Zeitschriften entsprechen“, für nicht zulässig erklärt worden. Auf diese Norm stützte sich dann die Klage von Zeitungsverlegern gegen die Tagesschau-App, die 2011 begann und im April 2015 einen Etappensieg der Verleger vor dem BGH verzeichnete.
Den Möglichkeiten der Öffentliche-Rechtlichen, mediumsadäquate Inhalte originär für das Internet zu produzieren sind seither enge Grenzen gesetzt. Die Zeitungskrise haben diese Verbote nicht abgewendet. Gerade der regionalen Informationsversorgung hat das Verbot einer flächendeckenden lokalen Berichterstattung in öffentlich-rechtlichen Telemedien einen Bärendienst erwiesen.
Die Anstrengungen, die aus den Weckrufen entstanden, richteten sich vor allem auf die digitalen Fernsehkanäle. Im Anhang des 13. Rundfunkstaatsvertrags von 2009 wurde ein ZDF-Familienkanal, angekündigt, der den ZDF.dokukanal ersetzen sollte. Noch während der Ratifizierung des Staatsvertrags wurde stattdessen ZDFneo gegründet, das sich an die 25- bis 49-Jährigen richtet. ZDFkultur entstand 2011 aus dem ZDFtheaterkanal mit Spezialangeboten für ein jüngeres Publikum. Das 1997 unter Federführung des SWR gegründet EinsMuXx wurde 2005 in EinsPlus umbenannt und nach diversen Verwandlungen 2012 auf 14- bis 30-Jährige ausgerichtet. ZDFkultur und EinsPlus werden nun für das neue Jugendangebot eingestellt. Seit Mitte 2013 werden die jugendaffinen TV- und Radioangebote der ARD zudem unter der Rubrik EinsLike in der Mediathek gebündelt, die man als ein Pilotprojekt für den trimedialen Jugendkanal verstehen kann.
Im Oktober 2013 legten ARD und ZDF der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder auf deren Aufforderung hin den Entwurf eines gemeinsamen Jugendangebots vor. Im Zentrum dieses trimedialen Konzepts stand ein Fernsehsender à la EinsPlus mit Zweitverwertungen aus den Jugendradios und ein bisschen Internet à la EinsLike.
Die Länderchefs nahmen das Konzept zur Kenntnis, meldeten aber Nachbesserungsbedarf an. So sollte für das Angebot ein Jugendbeirat eingerichtet werden, und die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) wurde gebeten zu prüfen, ob die geplanten maximal 45 Millionen Euro ausreichen, um das Konzept zu finanzieren. Daraufhin legten ARD und ZDF im Februar 2014 Erläuterungen zu diesen Punkten nach. Darin wird das Internet als ein „unersetzbarer Ausspiel- und Kommunikationsweg“ bezeichnet und das klassische Fernsehen als ein „nach wie vor wichtiger Begleiter im Alltag der jungen Menschen“.
Die KEF bezeichnete in ihrer Stellungnahme vom 25.02.2014 das vorgelegte Konzept als eine „sehr schlanke Kalkulation“. Es fusse „erkennbar auf minimalisierten Ansätzen“. Innerhalb des ansonsten nachvollziehbaren Personaletats erscheint der Teilbereich Online nicht hinreichend dotiert. Angesichts der ‘Rund-um-die-Uhr-Kommunikation’ werden die Mitarbeiter nur begrenzt redaktionell produktiv tätig sein können.“ Der Ansatz von 45 Millionen Euro pro Jahr sei als „sehr gering zu bewerten. Dies gilt auch deshalb, weil klare Ziele nicht genannt werden. Hieraus ergeben sich Risiken, die nicht abgeschätzt und bewertet werden können.“ (Stellungnahme der KEF zum geplanten Jugendangebot, 26.02.2014).
Unterdessen gab BBC-Intendant Tony Hall im März 2014 bekannt, dass der trimediale Jugendkanal BBC Three ab Herbst 2015 nur noch online im BBC iPlayer weiter geführt werde. Er folgt damit dem Kurs, radikale Budgetkürzungen als Qualitätsoffensive zu deklarieren. Mit einem Etat von 110 Millionen Euro erreicht der Kanal 29% der 16 bis 34-Jährigen. Zum zehnjährigen Geburtstag erklärte Zai Bennett, der Controller des mehrfach preisgekrönten BBC Three, dass es sich um den Digitalkanal mit den meisten Zuschauern in England handele. Kein anderer Kanal für junge Erwachsene produziere mehr Dokumentarfilme, Nachrichten und Comedy. Prompt führte die angekündigte Schrumpfkur zu Protesten von Bildschirmstars und einer Petition zur Erhaltung von BBC3 mit mehr als 260.000 Unterschriften. Auf 25 Millionen Euro soll der Etat des neue BBC Three schrumpfen und dennoch, wie Projektleiter Damian Kavanagh erklärte, das, was großartig an der BBC ist, mit dem zusammenführen, was großartig am Digitalen ist.
In Deutschland stand der Jugendkanal inzwischen schon kurz vor dem Aus. Im April hatte Berlins oberster Medienpolitiker Björn Böhning (SPD) den Jugendkanal aufgrund des Widerstands von Bayern und Sachsen für fast tot erklärt. „Wenn wir uns nicht für einen Jugendkanal entscheiden, ist das auch kein Weltuntergang.“ (NDR Zapp, 09.04.2014)
Und dann kam überraschend die Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz am 15. – 17. Oktober 2014 in Potsdam, ARD und ZDF „unmittelbar mit einem gemeinsamen Jugendangebot im Onlinebereich“ zu beauftragen. Die BBC-Entscheidung wird in dem Zusammenhang zwar nirgends erwähnt, dass sie eine Rolle gespielt hat, darf man aber unterstellen.
In den Anstalten löste die Entscheidung bei denen Erleichterung aus, die das Internet ohnehin als Weg in die Zukunft sehen. Andere wie der beim Jugendangebot in der ARD federführende SWR-Intendant Peter Boudgoust trauern der Konvergenz, der „konsequenten Verschmelzung von Hörfunk, Online und Fernsehen“ nach. Er beklagt: „Nun müssen wir uns auf eine Ausstrahlung im Internet beschränken.“ (ARD-PM, 17.10.14) „Eine Ausstrahlung im Internet“ – O weh, da ist noch ein Stück Lernkurve zu erklimmen. Vor allem aber führte sie zu einer spürbaren Ratlosigkeit, um nicht zu sagen Schockstarre, sowie Funkstille nach außen.
Das nächste Signal kam Anfang März 2015: Florian Hager, bis dato stellvertretender Programmdirektor bei Arte, soll das Jugendangebot von ARD und ZDF leiten. Das deutsch-französische Ko-Projekt Arte untersteht nicht dem üblichen Rundfunkstaatsvertrag, sondern einem eigenen Staatsvertrag zwischen Frankreich und den Bundesländern vom 2. Oktober 1990, der dem Sender die Freiheit gibt, angemessen im Medium Internet zu agieren. Mit Projekten wie der crossmedialen Serie „About: Kate“ und online-only Angeboten wie Arte-Creative hat Hager Erfahrungen in der Exploration des Neulands wie wenige andere.
Einer der ersten öffentlich bekannten Schritte von Florian Hager war es, das Gespräch mit Youtube-Stars zu suchen, um von ihnen etwas über Inhalte und Ansprache eines jungen Publikums zu lernen und gemeinsam neue Formate zu entwickeln (Spiegel Online, 14.03.2015).
Unterdessen arbeiteten die Rundfunkanstalten daran, den politisch erteilten Auftrag im Rahmen ihrer Programmfreiheit einzufüllen und ein Telemedienkonzept für das Jugendangebot zu entwickeln. Am 22.04.2015 gab die ARD bekannt, sie habe sich grundsätzlich auf ein Konzept für das junge Angebot verständigt. In der Pressemeldung wird der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor zitiert: “Junge Leute sollen Themen anstoßen, mitdiskutieren und das Angebot aktiv mitgestalten.“
Ende Mai stimmten die Gremien von SWR und ZDF dem Konzept zu. Zugleich bremste ZDF-Intendant Thomas Bellut die Erwartung, die Ministerpräsidenten könnten bereits bei ihrer Konferenz im Juni den Sendern den Auftrag für das Jugendprogramm erteilen. Die bevorstehenden Beratungen seien komplex. Ruprecht Polenz, der Vorsitzende des ZDF-Fernsehrats, wies darauf hin, dass die geplante Verbreitung des Jugendangebots über soziale Plattformen wie Facebook und YouTube weitere, vor allem datenschutzrechtliche Fragen aufwerfe (epd medien aktuell, 29.05.2015).
Heute, am 17. Juni, geht das Konzept nun zurück an den Rundfunkgesetzgeber, die Rundfunkkommission der Länder auf Ebene der Chefs der Staats- und Senatskanzleien. Damit ist das Projekt noch im Zeitplan, demzufolge noch vor der Sommerpause der Entwurf des Rundfunkstaatsvertrags entstehen soll, in dem das Jugendangebot beauftragt wird.
Die folgenden medien- und beihilferechtlichen Hürden könnten, wie Bellut und Polenz andeuteten, zu erheblichen Verzögerungen führen. Die rechtliche Grundlage des Vorgehens ist in Frage gestellt worden (z.B. von der stellvertretenden Vorsitzenden im NDR-Verwaltungsrat Dagmar Gräfin Kerssenbrock in ihrem Positionspapier vom 06.11.2013), was sogar eine Verfassungsbeschwerde nach sich ziehen könnte. Es wird Anhörungen in den Landtagen geben. EU-beihilferechtlich ist außerdem eine offene Konsultation durchzuführen, in der „betroffene Akteuren“ zu dem geplanten Angebot Stellung nehmen können (Vgl. dazu den Medienrechtler Karl-Eberhard Hain (epd medien, 12.12.2014). Das genaue Procedere für die offene Konsultation, die im Sommer stattfinden soll, steht noch nicht fest, schreibt die Medienkorrespondenz am 29.05.2015. Mit den Akteuren sind vor allem Medienunternehmen gemeint, die Auswirkungen auf ihren Markt erwarten. Wie stark jedoch hier die Zielgruppe selbst angesprochen wird und sich einbringt, wird ein erster Test für die Akzeptanz- und Erfolgsaussichten des Jugendangebots sein.
Schließlich wird es Gespräche mit der EU-Kommission geben. Der Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT) läuft sich bereits warm, das nächste Beihilfeverfahren in Brüssel anzustrengen. Sein Vorsitzender, Tobias Schmid, sagt (laut epd medien, 24.10.2014), „wenn das Jugendangebot so beauftragt werde wie angekündigt – nämlich ohne Einschränkungen –, müsse man nicht besonders hellsichtig sein, um vorherzusagen, dass es Gegenstand eines neuen Wettbewerbsverfahrens in Brüssel werde.“ Ob das Angebot tatsächlich, wie geplant, Mitte 2016 starten kann, ist somit fraglich.
Nach der langen Vorrede und dem ungewissen Ausblick nun endlich zum Konzept des Jugendangebots selbst.
Die Zielgruppe
Das Jugendangebot richtet sich an 14- bis 29-Jährige, die knapp 15 Millionen Menschen oder 18% der Gesamtbevölkerung ausmachen (Statistisches Bundesamt). Altersgemäß handelt es sich um Schüler, Studierende und junge Berufstätige.
Die Zielgruppe sei heterogen, heißt es im Konzept, aber es gebe prägende Gemeinsamkeiten: „Sie wächst in einer Welt auf, die von hoher Dynamik bestimmt wird,“ und sie sei „die erste Generation, die vollständig mit digitaler Technologie aufgewachsen … ist.“ (Konzept, S. 4)
Die Vorstellung einer eigenständigen Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein ist vergleichsweise jung. Der Popkulturforscher Jon Savage setzt die Entdeckung der Jugend im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts an, als zahlreiche Versuche unternommen wurden, „den Status der Jugend zu definieren – sei es durch konzertierte Anstrengungen, Heranwachsende im Sinne einer Nationalpolitik zu erziehen, oder durch die Verbreitung künstlerischer oder prophetischer Visionen, die dem Wunsch Jugendlicher entsprachen, nach eigenen Regeln zu leben.“ (Savage, Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875-1945), 2007) Nach der Jahrhundertwende hat sich das neu entdeckte Phänomen so weit verfestigt, dass es zum Gegenstand der Wissenschaft werden konnte, z.B. durch den Psychologen G. Stanley Hall, Adolescence (1904) oder den Soziologen Talcott Parsons, der 1942 den Begriff „Jugendkultur“ prägte.
Bei der Analyse sind biographische Verschiebungen (die Mediennutzung in der Schulzeit ist anders als im Berufsleben und im Ruhestand) ebenso wie Kohorteneffekte zu berücksichtigen. „Die Analyse von Mediennutzung, Medienbindung und Freizeitverhalten im Kohortenverlauf hat gezeigt, dass Menschen, die im gleichen Jahrzehnt geboren sind, durchaus ein spezifisches Medienverhalten aufweisen. Daneben beeinflussen aber auch Lebensalter und Zeitgeschichte den Umgang mit Medien.“ (Reitze/Ridder 2011) Insbesondere medientechnologische Zeitgeschichte prägt Kohorten, bis hinein in ihre Namensgebung: Generation Walkman, Generation iPod, Generation Digital Natives, Generation Kopf unten usw.
Einer großen Dynamik in Arbeits- und Beziehungswelt sind alle Altersgruppen ausgesetzt. Demgegenüber markieren die ‘digital natives’ einen echten, medientechnologisch induzierten Generationenwechsel. In der Zielgruppe treffen Jugendkultur und Internet-Kultur zusammen. Für sie gehört der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit dazu. Das Netz ist für sie immer schon sozial – oder genauer: horizontal. Das Smartphone ist der primäre Zugang zum Netz, immer zur Hand, immer online. Algorithmen, die aus der Massen an Transaktionsdaten Empfehlungen generieren und Verknüpfung legen, sind Teil dieser Öffentlichkeit. Open Data, Informationsfreiheitsanfragen und Online-Petitionen gehören ebenso dazu wie Whistleblowing (Julian Assanges Wikileaks, Edward Snowdens NSA-Leaks, Markus Beckedahls BND-Leaks) und direkte Online-Aktionen (Anonymous). Bewegtbild beziehen sie von netznativen Diensten wie Youtube oder von imigrierten Quereinsteigern. Netflix, 1997 als DVD-Versand in Kalifornien gegründet, expandierte im September 2014 auch nach Deutschland. Auch der 1994 gegründete Online-Versandhändler Amazon produziert inzwischen Spielfilme. In dieser Medienumwelt ist das öffentlich-rechtliche Jugendangebot nur eine App neben zahllosen anderen.
Empirische Erkenntnisse unterschiedlicher Herkunft bestätigen die Lagebeschreibung des Konzepts: Die U30 nutzen Medien online, on-Demand und mobil.
Inhalte, Themen, Interaktionen
„Das Jugendangebot spiegelt die Vielfalt der Formen und Inhalte des öffentlich- rechtlichen Rundfunks wider. Es dient der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung junger Menschen und enthält Beiträge zur Kultur.” (Konzept, S. 13)
Die U30 sind keine Sparte, keine partikulare Gruppe, sondern die gesamte Gesellschaft bis zu einem bestimmten Alter. Daher ist die Entscheidung für ein Vollprogramm für die U30 völlig richtig.
Im trimedialen Konzept von ARD und ZDF vom Oktober 2013 orientierte sich das Programmschema im Themenspektrum und Genremix an vier europäischen öffentlich-rechtlichen Jugendsendern. Das aktuelle Konzept geht hingegen von einer Bestandsaufnahme der 100 erfolgreichsten Kanäle auf Youtube aus und entwickelt daraus für das Jugendangebot einen Satz von Kern-Genres:
„Musik/Jugendkultur, Wissen (Service) und hintergründige Information, Comedy/Unterhaltung/Fun, Film/Serien und Sport. Zugleich spielen serielle Stoffe als Unterhaltungsangebote eine unverzichtbare Rolle. Schließlich sind Events – ob aus Musik, Sport oder auch Information – unverzichtbarer Bestandteil des Angebots. … Die Themenpalette ist breit angelegt und reicht von Nischen-, über Bildungs- bis zu Unterhaltungsthemen.“ (Konzept, S. 6)
Die Bereiche Information, Fiktion, Comedy/Satire, Musik, Wissen und Wissenschaft sowie Service werden näher beschrieben und mit Beispielen versehen.
Dazu im Folgenden einige Anmerkungen und Anregungen zu dem, was darüber hinaus Beachtung verdient. Die Vorschläge berücksichtigen Sparsamkeitserwägungen und richten sich vor allem auf Kooperationen mit öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Partnern.
Nachrichten
„Klassische Nachrichtenversorgung ist im Netz durch ein plurales und umfängliches Angebot über diverse Newsportale – von heute.de bis Spiegel online – gewährleistet. Ein Info-Format könnte sich satirisch mit aktuellen Themen der Jugend- und Netzkultur auseinandersetzen. Auch politische Themen werden hier aufgegriffen und in kurzen, wöchentlichen Clips verarbeitet, die über die Foto- und Video-Sharing-App Instagram ihre Verbreitung finden.“ (Bellut)
„Nachrichtliche Themen … Das Jugendangebot wird auf entsprechende Angebote von ARD und ZDF verweisen und diese zielgruppengerecht in das Gesamtangebot einbinden.“ (Konzept, S. 7)
Der SWR-Intendant Peter Boudgoust sagte Ende 2012: „Es wäre ein enormer Geburtsfehler, einen solchen Kanal ohne Nachrichten zu starten. Information gehört zu unserem Kernauftrag.” (Journalist, 27.12.2012) Dem ist aufgrund der Analyse der Nachrichtenlandschaft nur zuzustimmen. Nachrichten und das im Konzept angesprochene politische Orientierungswissen in neuen jugendgemäßen, zugänglichen Formen zusammenzubringen, sollte ein wichtiges Anliegen sein. Mit Satire und Infohäppchen allein würde man das Publikum unterschätzen und unterfordern.
Darüber hinaus sollen die Nutzer des Jugendangebots auf bestehende Nachrichtenangebote von ARD und ZDF verwiesen werden. Das erscheint erfolgversprechend, wo Anstrengungen unternommen werden, diese Nachrichten jünger und netzgerechter zu gestalten, wie es das ZDF mit Heute plus getan hat. Das gerade gestartete Nachfolgeformat heute+ soll den Dialog zwischen Zuschauern und Nachrichtenmachern weiter entwickeln. „Wir wollen gar keine Nachrichten für jungen Leute machen, sondern hinterfragende, kritische, gegen den Mainstream gerichtete Nachrichten, die in der Machart anders, frischer, frecher sind,“ erklärte der stellvertretende Chefredakteur Elmar Theveßen (in heute plus, 24.4.15). Und genau damit hat heute+ eine Chance, die U30 zu erreichen.
Solche Experimente entscheiden darüber, ob ein „Nachrichtenabriss“ verhindert werden kann. Auch vom Jugendangebot aus wird über Nachrichten und ihre zielgruppengerechte Einbindung nachzudenken und zu experimentieren sein.
Einen Einblick in die vertrackte Lage gibt die JIM-Studie 2014. Gefragt, welchen Medien sie im Falle einer widersprüchlichen Berichterstattung am ehesten Glauben schenken würden, antworteten die 12- bis 19-Jährigen: Tageszeitungen (40%), Fernsehen (26 %), Radio (17%) und erst dann Internetberichterstattung (14%). Die gefühlte Glaubwürdigkeit korreliert also nicht mit der tatsächlicher Nutzung. Diejenigen, die „das Internet“ für glaubwürdig halten, nennen als vertrauenswürdigste Angebote: Spiegel-Online und Google (je 16%), Wikipedia (15%), Facebook sowie E-Mail-Provider (T-Online/Web.de/Gmx.de/msn, je 11%), YouTube (9%) und nur 8% die Online-Auftritte von Zeitungen wie der Süddeutschen Zeitung, der FAZ oder der ZEIT, denen sie in der gedruckten Version das größte Vertrauen entgegenbringen und die sie nicht lesen. (JIM-Studie 2014, S. 14).
Die Forschung und alle die auf ihre Ergebnisse aufbauen, haben ein Umfrageproblem und zwar ein doppeltes. Die eine Seite ist die in den 1970er-Jahren von Elisabeth Noelle-Neumann formulierten Schweigespirale: Menschen haben die Neigung, das zu sagen, was sie für opportun, gesellschaftlich gewünscht, mehrheitsfähig halten. Die andere Seite liegt darin, dass es neben Auftragsforschung keine unabhängige, universitäre Medienforschung gibt.
Die Zeitungsmüdigkeit wird durch eigene Fehler der Medien noch verstärkt. Wie – immer zu hinterfragende – Umfragen zeigen, ist das Vertrauen in die Medien so schlecht wie nie. Jüngste Anlässe waren die Ukraine-Berichterstattung, die auch vom ARD-Programmbeirat als tendenziös gerügt wurde, aber auch die Berichterstattung in eigener Sache über die Tagesschau-App. Dieses Vertrauen wiederzugewinnen muss ein vorrangiges Ziel sein.
Einige Bundesländer haben das Mindestwahlalter bei Landtagswahlen auf 16 Jahre abgesenkt. Erste Erfahrungen zeigen, dass Jungwähler kleine Parteien präferieren, links wie rechts. Wenn 16-Jährige das Recht erhalten, über die Geschicke ihres Landes mitzubestimmen, wird es umso wichtiger, sie mit Politik zu erreichen, deren Relevanz für ihr Leben zu vermitteln und Leidenschaft für politisches Handeln zu wecken. Die U30 interessieren sich keineswegs ausschließlich für Unterhaltung und Kurzweil. Umwelt, Intoleranz und Netzpolitik gehören zu den für sie wichtigen Themen. Anekdotischer Beleg: Die Demonstrationen gegen das Handelsabkommen ACTA im Juni 2012 waren außergewöhnlich jung: 12-16-jährige Youtuber befürchteten, dass ACTA ihrem kreativen Schaffen ein Ende machen könnte.
Nicht zuletzt sind Journalismus und Nachrichtenrezeption im Umbruch (s. z.B. den New York Times Innovation Report, 24.03.2014). Diesen Umbruch gilt es auch vom Jugendangebot aus mit zu gestalten. Zu den neuen Akteuren gehört die Wikipedia, der, wie die JIM-Studie zeigt, großes Vertrauen entgegengebracht wird.
Die Wikipedia ist eines der am meisten frequentierten Informationsangebote im Internet. Die JIM-Studie 2014 stellt für die 12- bis 19-Jährigen fest: „Der Zugang zu Informationen erfolgt weitgehend über Suchmaschinen und Wikipedia.“ (S. 60). Sie wird zunehmend auch als Quelle für tagesaktuelle Informationen genutzt. Dabei handelt es sich naturgemäß nicht um Breaking News, wie sie sich in den Massenmedien und auf Twitter finden. Der Wert der Wikipedia liegt darin, Nachrichten zu aggregieren und kontextualisieren – und das oft in Echtzeit und mit einer Tiefe, die kein klassisches Nachrichtenmedium für alle aktuellen Themen bereithält. (Damit ist nicht WikiNews gemeint, sondern Enzyklopädie-Einträge zu aktuellen Ereignissen. Mit gutem Grund hat Google 2009 die Wikipedia als Quelle in Google News aufgenommen. Vgl. Is Wikipedia a Real-Time News Source?, By Steven Cherry, IEEE Spectrum, 5 Feb 2013; Why Wikipedia Should Be Trusted As A Breaking News Source, Mike Melanson, Readwrite 15.03.2010)
Für das Jugendangebot schließen daran zwei Fragen an:
- Gemäß der These ‘Wenn die jungen Menschen nicht zu uns kommen, müssen wir dorthin gehen, wo sie sich informieren’ (s.u. zu sozialen Netzwerken) wäre zu eruieren, wie öffentlich-rechtliche Inhalte in der Wikipedia zugänglich und nutzbar gemacht werden können.
- Wie kann die Wikipedia als Sensor für die Beobachtung des Nachrichtengeschehens eingesetzt werden? So beobachtet z.B. der Wikipedia Live Monitor, welche Artikel aktuell bearbeitet werden, filtert diejenigen heraus, bei denen sich Artikelbearbeitungen von mehreren Nutzern ballen, vergleicht sie mit Aktivitäten in sozialen Netzwerken und kann so Hinweise auf Breaking News geben.
Für eine Kooperation mit der Wikipedia gibt es Präzedenzfälle wie den gemeinsamen Faktencheck von ZDF und Wikipedia zur Bundestagswahl 2013. Sie insbesondere im Zusammenhang mit dem Jugendangebot weiter zu entwickeln, bietet sich aus verschiedenen Gründen an:
- Beide sind dem für alle frei zugänglichen, qualitätsgesichertem Wissen verpflichtet.
- Die Altersgruppen von Wikipedia und Jugendangebot sind weitgehend deckungsgleich.
- Beide sind in einer Neuorientierung auf Webvideo, ein Weg, den sie zusammen gehen können.
Europa
„Das Jugendangebot trägt zur Sicherung von deutschen und europäischen Produktionen als Kulturgut sowie als Teil des audiovisuellen Erbes bei.“ (Konzept, S. 13)
Die Förderung europäischer Produktionen nach § 6 RF-StV, der hier wörtlich zitiert wird, ist ebenso Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags wie die Förderung der internationalen Verständigung und der europäischen Integration (§ 11, Abs. 1, RF-StV). Das Projekt Europa wächst zusammen und droht zugleich auseinander zu brechen. Eine den europäischen politischen Prozess begleitende europäische Öffentlichkeit steht noch weitgehend aus. Daher ist ein wichtiges Anliegen für das Jugendangebot, eine junge, mobile, multikulturelle Wählerschaft über das gesamte Spektrum von Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung für das Projekt Europa zu gewinnen.
Mit den vier für das trimediale Konzept analysierten Jugendangeboten BBC3 (GB), NPO3 (Niederlande), DR3 (Dänemark) und P3 (Norwegen) wurde eine Zusammenarbeit in der Formatentwicklung angestrebt. Ebenso wären Programmaustausch und Koproduktionen mit diesen und anderen öffentlich-rechtlichen Medien wünschenswert, um Europa informationell und kulturell zusammen wachsen zu lassen. Der Blick zu unseren Nachbarn ist für die U30 ebenso attraktiv, wie der in die USA. Die Privaten füllen große Teile ihrer Sendezeit mit angekauften US-Produktionen, womit sie gegen den Rundfunkstaatsvertrag verstoßen, demnach der Hauptteil des fiktionalen Programms aus europäischen Produktionen bestehen muss (Die Medienanstalten, Programmbericht 2014). Hier kann sich das Jugendangebot mit einer europäischen Vernetzung klar abgrenzen. 3sat und Arte sind wichtige Schritte in die richtige Richtung. Der natürliche Rahmen, um eine solche junge europäische Öffentlichkeit auf den Weg zu bringen, ist die European Broadcasting Union (EBU). Weitere Kooperationen bieten sich an mit:
- Erasmus+, dem Austauschprogramm für Schüler, Auszubildende und Studierende der Europäischen Union.
- Jugendaustauschorganisationen (z.B. über den Arbeitskreis gemeinnütziger Jugendaustauschorganisationen (AJA))
- dem aus der EU-Jugendstrategie hervorgegangenen und vom Deutschen Bundesjugendring verantworteten Strukturierten Dialog.
Multikulturalität
„Das Jugendangebot leistet eine Abbildung gesellschaftlicher Vielfalt.“ (Konzept, S. 13)
Auch die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Telemedienangebote, die allen Bevölkerungsgruppen die Teilhabe an der Informationsgesellschaft ermöglichen, sind Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags (§§ 11, Abs. 1 und 11d, Abs. 3, RF-StV). Gesellschaftliche Vielfalt bleibt Bereicherung wie Konfliktfeld. Jeder fünfte Einwohner hat einen Migrationshintergrund. Bei den unter 15-Jährigen sind es 33% (10. Bericht über Ausländer und Migranten in Deutschland).
Im trimedialen Konzept waren junge Menschen mit Migrations- und multikulturellen Erfahrungen noch ausdrücklich angesprochen. Im aktuellen Konzept fehlen sie. Dies erstaunt umso mehr, als aus den eigenen Reihen bereits ein Konzept vorgelegt worden ist. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Barbara Thomaß, Professorin für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied des ZDF-Verwaltungsrates, entwickelte das kosmopolitische, interkulturelle und trimedial CTV, das viele wertvolle Ideen für das Jugendangebot enthält.
Auch hier bieten sich Kooperationen mit bestehenden Initiativen an, darunter:
- Silent University – eine Wissensplattform für Flüchtlinge und Migranten. Akademiker und Berater, die aufgrund ihres Status’ ihr Wissen nicht anderweitig einsetzen können, organisieren Lehre und Forschung. In London gestartet, mit Dependencen in Stockholm und Hamburg.
- Die No Border Academy gehört zu den Partnern der Silent University.
- #YouGeHa – YouTuber gegen Hass – eine unabhängige Kampagne von Youtuberinnen gegen versteckten und offenen Fremdenhass und Ausgrenzung.
Bildung und Information
„Klassische Bildungsthemen aus Schule und Studium können hier leicht zugänglich über Animationen dargestellt werden, wie beispielsweise bei ‘MinuteEarth’ (YouTube-Kanal, betrieben von mehreren Produzenten mit wissenschaftlichem Hintergrund), die in animierten Drei-Minuten-Stücken komplexe Themen wie die Entstehung der Erde erzählen.“ (Konzept, S. 9)
Schule und Ausbildung gehören zur harten Lebensrealität der Zielgruppe. Auch, was einmal Schulfunk zu festen Sendezeiten war, geht im Internet anders. Neben den angesprochenen Kurzformaten wäre ein sorgfältig kuratiertes Archiv aus Open Educational Ressources (OER) für Schul- und Ausbildungswissen ein echter Mehrwert für die Zielgruppe.
Gerade hier wäre es äußerst verdienstvoll, Energie in die Entwicklung neuer Formate der Wissensvermittlung zu investieren. Dazu zwei Good-Practice-Beispiele aus unserem Projekt:
- Das unter Leitung von Oliver Rauch und André Grzeszyk im Projekt Grundversorgung 2.0 entwickelte Playwall ist ein System für multiperspektivisches Storytelling. Dafür werden Video-Interviews, Dokumentar- oder Archivmaterial in kleinste Sinneinheiten zerlegt und verschlagwortet, die dann auf unterschiedlichen Wegen befragt, verknüpft und interaktiv erlebt werden können.
- Das Grundversorgung 2.0-Projekt Hyperbole unter Leitung von Bastian Asdonk hat verschiedene Formate entwickelt, um ein junges Publikum zu Fragen der Politik – „Eine Stimme“ zur Bundestagswahl 2013 –, zu Vorurteilen – „Frag ein Klischee“, das in der Woche der Toleranz von ARD.de gefeatured wurde –, oder zum Krieg anzusprechen – „Die innere Front“, in dem ein traumatisierter Bundeswehrsoldat in sechs Episoden aus seinem Leben erzählt. Hyperbole hat auf Youtube mit 50.000 Abonnenten und fast 14 Millionen Aufrufen ein junges Publikum im Netz erreicht und ist für den Grimme Online Award nominiert.
Preise sind ausgezeichnete Indikatoren für Best-Practice. Neben Grimme ist zu denken an den Civis Medienpreis für Integration und kulturelle Vielfalt in Europa der gleichnamigen Stiftung und die Best of Online Activism Awards der Deutschen Welle. Die beste Empfehlung für Innovationen haben die Autoren des Konzepts selbst gegeben:
„Um mit dem Jugendangebot erfolgreich … zu bestehen, ist es daher wichtig, von Beginn an externe Kompetenz direkt einzubinden, den Rat von Verantwortlichen von Best-Case-Produkten einzuholen und mit jungen Machern zusammenzuarbeiten.“ (Konzept, S. 12)
Medienkompetenz
Auch die Förderung technischer und inhaltlicher Medienkompetenz aller Generationen und von Minderheiten durch die Telemedienangebote ist Teil des Auftrags (§ 11d, Abs 3 RF-StV). Im Konzept wird „Medienkompetenz“ nur ein Mal genannt: Die Einbeziehung der Nutzerinnen in das redaktionelle Angebot sei „ein bewusster Beitrag zur Förderung von Medienkompetenz und eine Einladung zur Auseinandersetzung mit der komplexen Medienwelt.“ (Konzept, S. 12)
Für ein Jugendangebot im Internet ist es ausgeschlossen, die Vermittlung von technischer und inhaltlicher Medienkompetenz nicht zentral zu stellen. Dazu gehören die Fähigkeit,
- Quellen unterschiedlichster Provenienz und Qualität kritisch einschätzen zu können,
- sich der Gefahren im Netz für Datenschutz, durch Cyber-Angriffe, Online-Sucht, Cyber-Mobbing usw. bewusst zu sein und Schutzmittel und Alternativen zu kennen und
- Medien aktiv gestalten und sich darin ausdrücken zu können.
Zum letzten Punkt heißt es im Konzept:
„Mit den Inhalten dort zu sein, wo die Zielgruppe ist, bedeutet auch, vor Ort mit ihr zu produzieren. Das Jugendangebot nutzt dazu die von ARD und ZDF gegebene Infrastruktur und setzt punktuell, wann immer es passt, lokale Creator-Spaces (also Experimentierlabore) auf, um Inhalte mit jungen Machern direkt umzusetzen.“ (Konzept, S. 12)
Das schließt in der Wortwahl an die „Youtube Creator Spaces“ an, zielt jedoch auf redaktionelle Inhalte, die zusammen mit jungen Machern umgesetzt werden sollen. Was Youtube mit seiner Version beabsichtigt, – junge Menschen mit Kenntnissen und Gerätschaft dabei unterstützen, ihre eigenen Projekte umzusetzen –, existiert im öffentlich-rechtlichen Raum bereits: die Offenen und Bürger- und Ausbildungskanäle, die als dritte Säule des tatsächlich trialen Systems seit 30 Jahren Medienkompetenz vermitteln. Sie erscheinen, auch wenn sie unter anderen Voraussetzungen von den Landesmedienanstalten betrieben werden, als natürliche Partner für das Jugendangebot.
Neben der klassischen audiovisuellen Medienkompetenz ist im Universalmedium des vernetzten Computers informatische Kompetenz unerlässlich. Das Institut der deutschen Wirtschaft vermeldet in seinem MINT-Frühjahrsreport 2015 für die Felder Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik eine aktuelle Arbeitskräftelücke in Höhe von 137.100 Personen. Mit dem Informatikunterricht in Schulen scheint es nicht zum Besten zu stehen. In England ist Programmieren seit September 2014 Pflichtfach für Grund- und Mittelschüler. Die BBC unterstützt das Anliegen mit Bildungsmaterialien.
Natürlich kann das Jugendangebot nicht die ganze Bürde dieser Herausforderung für das Bildungssystem schultern, doch kann es, wie die BBC, solche Anstrengungen in seinen Bereichen Wissen, Bildung und Service unterstützen, z.B. indem es Sammlungen von Offene Bildungsressourcen (OER) bereitstellt.
Auch hier bieten sich Kooperationen mit Bildungseinrichtungen und Zivilgesellschaft an, darunter:
- Jugend hackt, eine Serie von Veranstaltungen der Open Knowledge Foundation, um Jugendlichen einen aktiven Umgang mit dem Computer zu vermitteln,
- Code for Germany, ein Netzwerk von Programmiererinnen, Designern und Open Data Interessierten, die an nützlichen Anwendungen für Bürgerinnen arbeiten,
- die Wissenschaftsjahre des BMBF, die Lust auf Wissenschaft und Technik machen wollen.
Wissensarchive
„ARD und ZDF verfügen auch hier über einen großen Fundus an zeitgeschichtlichen sowie zeitlosen Inhalten, die für neue Wissensformate genutzt werden können.“ (Konzept, S. 9)
„Dabei setzt das Jugendangebot auch auf den Austausch mit externen Macherinnen und Machern und fördert damit gleichsam die junge, kreative Kultur- und Webvideoszene in Deutschland. Dabei können ARD und ZDF mit ihren Archiven einen großen Fundus an Bewegtbild bereit stellen, der jungen Inhalteanbietern verfügbar gemacht werden kann.“ (Konzept, S. 13 f.)
Das derzeitige ‘Verweildauerkonzept‘, das durch seine willkürliche Verkürzung des Archivs von laufenden politischen, sozialen, kulturellen Debatten auf breites Unverständnis stößt, ist für das Jugendangebot gefallen. Es wird somit erstmals möglich, den informationellen Long-Tail, die Vorgeschichte der Tagesmeldung in das aktuelle Angebot aufzunehmen. Die Bereitstellung eines öffentlichen Archivs ist eine konsistent von fast allen Akteuren geteilte Erwartung an die Öffentlich-Rechtlichen. Die vor Kurzem vorgestellte Studie Public Network Value der Universität Salzburg im Auftrag von ORF und BR ergab, dass den Experten zufolge gleich nach dem leichten Zugang zu den Angeboten an zweiter Stelle die Bereitstellung eines umfangreichen Wissensarchivs von Bedeutung ist (S. 70 f. Caveat: ich war einer der befragten Experten). Dass beim Jugendangebot über eine erweiterte Abrufbarkeit hinaus der öffentlich-rechtliche Fundus auch externen Produzentinnen zur Weiternutzung verfügbar gemacht werden soll, ist sehr zu begrüßen.
Die Archivfrage geht weit über das Jugendangebot hinaus. Zuallererst gilt es, das audiovisuelle kulturelle Erbe in den verschiedenen öffentlich-rechtlichen Archiven zu digitalisieren und zugänglich zu machen, um es für kommende Generationen vor dem Verfall zu bewahren. Dazu fehlt jedoch bislang der Auftrag. Prof. Dr. Bernt Hugenholtz, Direktor des Instituts für Informationsrecht (IViR) der Universität Amsterdam, forderte folglich, dass der Grundversorgungsauftrag um ein öffentliches Mandat zur Bewahrung und Nutzbarmachung des medialen Kulturerbes ergänzt werden müsse (in seinem Beitrag auf der Abschlusskonferenz des größten nationalen Bilddigitalisierungsprojekts Europas “Bilder für die Zukunft” im Oktober 2012).
Die U30 nutzen Medien on Demand. Umso wichtiger ist es, dass es eine Gesamtschau auf die aktuell verfügbaren öffentlich-rechtlichen Inhalte gibt, damit die Zielgruppe finden kann, was angeboten wird. Browsing, das Durchstöbern eines Katalogs nach interessanten Entdeckungen, ist eine grundlegende Kulturtechnik, nicht erst seit dem Netz. Dieses Desiderat ist von einer Gruppe freier Programmierer beantwortet worden: MediathekView erlaubt es, die deutschsprachigen öffentlich-rechtlichen Mediatheken (DE, AT, CH) in einer einheitlichen Oberfläche zu durchsuchen. Ideal wäre es, über ein ähnliches Interface auf sämtliche öffentlich-rechtlichen Online-Angebote in der EBU zugreifen zu können.
Um jungen Medienmacherinnen den Fundus an Bewegtbild zur Weiternutzung für genuine Online-Formate verfügbar zu machen, reicht es nicht aus, im Einzelfall die Rechte zu klären. In der Netzkultur – die durch eine Demokratisierung der Meinungsäußerungsfreiheit gekennzeichnet ist – sind pauschale Freilizenzen das Signal, dass kreative Weiternutzung erwünscht ist, Lizenzen, die die Modifikation und Verbreitung der abgeleiteten Werke erlauben. Die Verwendung von Creative Commons-Lizenzen (CC) wird bereits von einer entsprechenden ARD-Arbeitsgruppe empfohlen. Zu den Präzedenzen für Freilizenzierung gehören:
- Elektrische Reporter (ZDF) unter CC BY-NC-SA
- Quer (BR) unter CC BY-NC-SA
- Space Night (BR) mit CC-Musik und eigenen Kompilationen
- Breitband (DRadio Kultur) mit CC-Musik und eigenen Kompilationen
Die ARD-AG weist darauf hin, dass eine Beschränkung der Freilizenz auf nichtkommerzielle Nutzung (NC) dazu führt, dass diese Inhalte nicht in der Wikipedia genutzt werden können. Um die Voraussetzungen für eine Kooperation zwischen Jugendangebot und Wikipedia (s.o.) zu schaffen, ist anzustreben, auf eine NC-Beschränkung zu verzichten. (Zu den Folgen der CC-NC-Lizenz s. Paul Klimpel, Freies Wissen dank Creative-Commons-Lizenzen. Folgen, Risiken und Nebenwirkungen der Bedingung „nicht-kommerziell – NC“, Mai 2012.)
In beiden Fällen – der europaweiten öffentlichen Zugänglichmachung wie der Freilizenzierung – sind natürlich die ökonomischen Interessen der Urheber zu berücksichtigen.
Games und Software
„Spiele- oder Softwareangebote müssen daher – ungeachtet des Vorliegens spezieller Angebote oder Sendungen – Teil des Jugendangebots sein können.“ (Konzept, S. 9)
Aus mediensoziologischer Sicht ist der konstatierten Bedeutung von Gaming für die Zielgruppe wie der Entscheidung, Spiele- oder Softwareangebote zu einem Teil des Jugendangebots zu machen, zuzustimmen. Serious Games haben sich seit zehn Jahren als Vehikel etabliert, ernste Themen zu transportieren, in Jugend- und Erwachsenenbildung Wissen zu vermitteln und in Bezug auf Gesundheit, Bewegung, Toleranz usw. das Verhalten der Spieler im wirklichen Leben zu beeinflussen.
Ein verwandter, jüngerer verhaltensökonomischer Ansatz, Menschen durch ein sanftes Schubsen zu der „richtigen“ Entscheidung in ihrem eigenen Interesse zu bringen, ist das Nudging. Nicht nur die US-amerikanische und die britische Regierung haben Nudging-Units eingerichtet, auch das Bundeskanzleramt hat eine Projektgruppe „wirksam regieren“ etabliert.
Der ‘liberale Paternalismus’ einer Verhaltensbeeinflussung durch Games und ein ‘nudgendes’ Sozialdesign sind nicht unumstritten (z.B. Mathias Fuchs, Gamification as twenty-first-century ideology, in: Journal of Gaming & Virtual Worlds, Vol. 6, No. 2, 2014). Als Thema ist es fraglos so relevant, dass das Jugendangebot nicht nur darüber berichten, sondern sich auch aktiv dazu verhalten sollte. Dafür ist zunächst die Negativliste für öffentlich-rechtliche Telemedien im RF-StV anzupassen. Die untersagt derzeit „10. Softwareangebote, soweit nicht zur Wahrnehmung des eigenen Angebots erforderlich“ und „14. Spieleangebote ohne Sendungsbezug“ (vgl. den Entwurf des neuen RF-StVs). Sicher bleiben wird das Werbeverbot. Das untersagt Hinweise auf oder gar den Einsatz von kommerziellen Games und Software. Daher sind in diesem Bereich Kooperationen mit öffentlichen und gemeinnützigen Initiativen, Freien-Software-Projekten sowie nichtkommerzielle Eigenentwicklungen das Mittel der Wahl.
Partizipation
„Das Angebot … darf in Sachen Kommunikation keine Einbahnstraße sein.“ (Konzept, S. 12)
„Mitwirken- und Mitredenkönnen sind für das Jugendangebot konstitutiv. Das Angebot bietet jungen Menschen die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, sich über aktuelle Themen mitzuteilen und gehört zu werden.“ (Konzept, S. 5)
„Das Jugendangebot unterstützt damit das demokratische Bedürfnis insbesondere junger Menschen nach Partizipation am Prozess der politischen Meinungsbildung und Auseinandersetzung. Die Beiträge sollen Nutzer ermutigen, Eigeninitiative zu ergreifen und sich aktiv in Debatten einzubringen.“ (Konzept, S. 16)
Es lassen sich vier Stufen der Partizipation unterscheiden: 1.) Mitmachangebote, 2.) Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Publikum, 3.) Freiraum für aktiven Ausdruck und Austausch und 4.) Teilhabe an Organisation und Aufsicht.
1.) Mitmachangebote
Dazu gehören Likes, Kanal-Abos, Kommentare, der Experten-Chat nach einer Sendung, das Durchspielen von Angeboten wie „Dina Foxx“. Sie sind die niedrigschwelligsten Formen von Kommunikation und Interaktion. Zugleich entscheiden sie über die Glaubwürdigkeit eines Angebots. Verbindlichkeit und Bindungen entstehen insbesondere, wenn Kommentare von verantwortlichen und sprechfähigen Redakteuren zeitnah beantwortet werden.
Den entgegengesetzten Weg geht Süddeutsche.de, das Kommentare zu Artikel seit Anfang des Jahres prinzipiell nicht mehr zulässt, sondern in einem moderierten Forum den Lesern “zwei bis drei große Themen des Tages” zur Diskussion anbietet. Wie aus dem NDR zu hören war, überlegt man bei tagesschau.de ebenfalls Einschränkungen der Kommentarfunktion. Hier geht das Konzept den richtigen Weg.
2.) Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Publikum
Das Konzept nennt hierzu, neben dem Pretesting von Piloten durch die Nutzer, insbesondere die „Creator Spaces“ (Konzept, S. 12).
Katharine Viner, neue Chefredakteurin des “Guardian” hielt im März eine Vortrag mit dem Titel: Der Aufstieg des Lesers. Darin spricht sie mit Jay Rosen von „den Leuten, die früher Publikum genannt wurden“, die nicht still sitzen und denen man zuhören müsse. Eines ihrer Beispiele:
„Im April 2010 geriet das Leck der Bohrinsel Deepwater Horizon außer Kontrolle: Niemand wusste die ölpest im Golf von Mexiko aufzuhalten. BP, der für die Katastrophe verantwortliche Konzern, sah sich zu einem öffentlichen Aufruf nach Lösungsvorschlägen gezwungen. Der Guardian reagierte mit einem eigenen Aufruf an seine Leserschaft und richtete eine Online-Plattform für Vorschläge ein. Ehe wir es uns versahen, hatten dort professionelle Taucher, Schiffsingenieure, Physiker, Biochemiker, Maschinenbauer, Bohrinselarbeiter, Bergleute und Verrohrungsexperten ihre Ideen hinterlassen. Die besten davon schickten wir gesammelt weiter. Es handelte sich um ein unglaublich reichhaltiges Arsenal, das wir allein den Leuten, die früher Publikum genannt wurden, zu verdanken hatten.“ (Der Aufstieg des Lesers, 26.03.2015)
Viner spricht sich gegen Bezahlschranken, für Quellenverlinkung, die im Netz unerlässlich sei, und für Kommentare aus. Sie berichtetet auch von Beleidigungen und Drohungen und der Herausforderung, respektvoll, dialogisch und behutsam moderierend damit umzugehen. Kommentare abschalten ist für sie keine Option. Im Gegenteil gelte es, immer neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Publikum auszuprobieren.
Ein Best-Practice-Beispiel ist
- der Wettbewerb „Orte in Bewegung“, der zwar nicht im Zusammenhang mit einem Jugendangebot stand, aber leicht übertragbar ist. Die Radio Ö1 Wissenschaftsredaktion suchte Projekte in österreichischen Gemeinden, Städten und Regionen, die dem Gemeinwohl dienen und ihre Umgebung durch soziale Innovationen verändern. Über 300 wurden eingereicht, über die eine Jury und das Publikum entschied. Dabei arbeitet der ORF mit der zivilgesellschaftlichen Crowdfunding-Plattform Respekt.net zusammen, die den mit je 2.000 Euro dotierte “Social Innovation Award” gestiftet hat. Alle Dokumente stehen unter CC. Daraus ist eine Drehscheibe für die Zivilgesellschaft geworden. Ähnlich könnte das Jugendangebot zusammen mit Partnern die U30 zu Projekten einladen, die sie begeistern und über einen Wettbewerb und durch eine Plattform eine nachhaltige Vernetzung fördern.
3.) Freiraum für eigenen Ausdruck
Die nächste Partizipationsstufe sind Communities, Weblogs und Plattformen für den Austausch von Inhalten. Hier geht es nicht mehr um betreute Partizipation in engen Bahnen, sondern um einen echten Freiraum für die aktive Ausdrucksfähigkeit in Medien.
Zu den Communities, die an die Stelle der Quote treten, schreibt der Politikwissenschaftler Christoph Bieber:
„Die gemeinschaftliche Medienproduktion durchzieht sämtliche Formate – als verbindender Begriff kristallisiert sich hier ‘Do-It-Yourself-Medien’ heraus (vgl. Lankshear/Knobel 2010). … Durch die starke Vernetzung und den regelmäßigen Austausch innerhalb solcher aktiver Publika können sich also neue Produktionsgemeinschaften formieren. Durch diese Vergemeinschaftungseffekte ist nicht nur ein kollektives Lernen möglich, sondern es besteht auch die Möglichkeit zur Umwandlung des Nutzerinteresses in eine ‘politische Bildenergie’, die in Wahl- oder Protest-Kampagnen sehr wohl eine breite Wirkung entfalten kann.“ (Partizipation durch Pixel? Visuelle politische Kommunikation und der kreative Umgang mit digitalen Bildern, 2012)
Das Konzept unterscheidet hier zwischen dem, was auf den Plattformen Dritter und auf der eigenen stattfindet.
„Drittplattformen stellen den Erstkontakt zwischen Nutzer und Angebot her, dienen zur Verbreitung der Inhalte sowie zur Interaktion und Kommunikation mit Usern. Auch die Integration von User-Generated-Content findet dort und im Wesentlichen nicht auf einer Startseite statt.“ (Konzept, S. 10 f.)
Dass Nutzerinnen eigene Inhalte, einschließlich Parodien, kritische Rekontextualisierungen und andere Bearbeitungen von Inhalten Dritter auf Youtube, Vimeo, Facebook, Twitter stellen, ist der Daseinszweck dieser Plattformen. Wie dort eine Integration dieser kreativen Werke der Nutzer in die jeweiligen Kanälen des Jugendangebots auf diesen Plattformen stattfinden soll, ist unklar. Ein erster Schritte auf die Nutzer zu wäre es, den diffamierenden Begriff ‘User-Generated-Content’ aufzugeben, der sagen will, dass ‘Urheber’ ‘Werke schöpfen’, während ‘User‘ nur ‘Content generieren‘. ‘Bürgerjournalismus‘ z.B. ist ein eingeführter Begriffe, der die Beiträge von Nicht-Beauftragen ernst nimmt. Daneben soll eine eigene öffentlich-rechtliche Austauschplattform angeboten werden:
„Um das hohe Interaktions- und Kommunikationsbedürfnis der Zielgruppe zu befriedigen, kann das Jugendangebot spezielle Funktionalitäten vorhalten, beispielsweise Chats und Foren, die junge Menschen zu den Themen des Webs zusammenbringen und ihnen eine Austauschplattform bieten. Diese eröffnen den Nutzerinnen und Nutzern in einem Umfeld ohne kommerzielle Interessen die Möglichkeit des direkten gegenseitigen, themenbezogenen Kontakts.“ (Konzept, S. 10)
Auch dafür muss die Negativliste im RF-StV angepasst werden. Für die eigenen Angebote bietet es sich an, freie Systeme einzusetzen (z.B. für Messenger offene, datenschutzgehärtete Standards wie XMPP/OTR oder GNU social, OwnTube statt Youtube; s. u. Alternativen)
„Fernsehen ist Monolog, Internet ist Dialog,“ schreibt Markus Hündgen (European Web Video Academy) und fordert – ganz im Sinne des Konzepts – ein öffentlich-rechtliches Youtube. Webvideos seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In dem Genre fehlten jedoch bislang journalistische, edukative und künstlerische Inhalte. Ein Marktversagen, dem durch ein “öffentlich-rechtliches YouTube” begegnet werden müsse.
Den Mehrwert, den eine offene, öffentlich-rechtliche Kontributorenplattform für Video den Nutzern bietet, ist genau dieses Umfeld von journalistischen, edukativen und künstlerischen Inhalten, die Werbefreiheit und die andere Kultur, die sie hervorbringt (die fehlende Monetarisierung spricht andere Produzentinnen an, als diejenigen, die hoffen, mit Youtube-Videos ihren Lebensunterhalt zu verdienen). Zudem wäre eine Brücke zu redaktionellen Bereichen des Jugendangebots attraktiv, das qualitätvolle Inhalte kuratiert und in einen eigenen Kontext stellt. Auch eine Brücke für die Weiternutzung der Videos in der Wikipedia wäre ein Anreiz. (Zu den sozialen Netzen im folgenden Abschnitt mehr.) Dazu drei Best-Practice-Beispiele:
- ABC Open, das Kontributorenportal der Australian Broadcasting Corporation. Jeden Monat werden dafür neue thematische Projekte aufgerufen (aktuell: „Time-lapse“, „500 words: I quit“, „Snapped: Lines and curves“, „Makers and Creators“). Dafür bietet ABC Workshops und Tutorials. Die Videos werden auf Vimeo hochgeladen und auf der Plattform Open.abc.net.au präsentiert.
- Das Oral History-Projekt von BBC Radio 4 mit der British Library. Die Kontributoren produzieren hier nicht etwa „UGC“, sondern Beiträge für ein nationales Kulturerbearchiv.
- Kioski, das Online-Jugendangebot des finnischen Rundfunks, ist auf Twitter, Facebook und Instagram präsent. Daneben kuratiert es aber auch Webvideos auf die eigene Site – eine Möglichkeit, Orientierung zu bieten, Qualität hervorzuheben und den Austausch mit den Nutzern zu intensivieren. Außerdem sind Filmemacher und Bands eingeladen, ihre noch unveröffentlichten Werke auf der Plattform einzustellen.
4.) Teilhabe an Organisation und Aufsicht
Die vierte Partizipationseben ist die Beteiligung der Nutzerinnen an der Organisation und an den Kontroll- und Aufsichtsgremien des Jugendangebotes.
Vertreter des Bundesjugendrings sitzen in einigen den Rundfunkgremien – nicht aber im ZDF-Fernsehrat. In einem Positionspapier fordern sie: Jugendliche an Medienangeboten beteiligen.
Die MPK vom Oktober 2013 hatte ARD und ZDF einen Jugendbeirat ins Pflichtenheft geschrieben:
„Sie erwarten weiterhin, dass die Belange der Zielgruppe bei der Entwicklung des Programmes dadurch berücksichtigt werden, dass die Anstalten einen ‘Jugendbeirat’ einrichten, dessen Mitglieder sich aus Personen der Zielgruppe des geplanten Angebotes rekrutieren und welcher die Entwicklung der inhaltlichen Ausgestaltung begleitet.“ (MPK-Beschluss, 25.10.2013)
Auch der ist im aktuellen Konzept verschwunden. Eine solche Begleitung und Mitgestaltung durch die U30 selbst ist Voraussetzung für eine echte Teilhabe, neudeutsch auch als ‘Ownership’ bezeichnet, die wiederum die Voraussetzung für die Akzeptanz des Jugendangebots darstellt.
Als erster Schritt drängt sich hier eine Konsultation der Zielgruppe auf zu ihren Erwartungen und Ideen für das Jugendangebot und die Partizipationsformen auf den verschiedenen Ebenen.
Online-Konsultationen sind in vielen Politikfeldern bereits üblich. Ein herausragendes Vorbild ist der Marco Civil genannte Grundrechtekatalog für das Internet in Brasilien. Seiner Verabschiedung im April 2014 ging eine Debatte über fünf Jahre mit zahllosen Anhörungen und einer zweistufigen Online-Konsultation voraus, in der zunächst Regelungsbedarfe identifiziert und im zweiten Schritt konkrete Maßnahmen gestaltet und bewertet wurden. Italien folgte dem Beispiel und stellte seinen Entwurf für ein Gesetz über Internet-Rechte von Oktober 2014 bis Februar 2015 auf der Civici-Plattform zur Konsultation. Auch zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag gab es im vergangenen Jahr eine ähnliche zweistufige Online-Konsultation. Gerade ist eine dritte Runde eröffnet worden. Beim Jugendangebot geht es zwar nicht primär um Gesetzgebung, doch da ARD und ZDF Mitwirken- und Mitredenkönnen für das Angebot als konstitutiv erklärt haben, erscheint eine ergebnisoffene Konsultation zum Auftakt als angemessenes Mittel.
Soziale Netzwerke
„Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Papiers werden insbesondere YouTube, Facebook, Instagram, Twitter, WhatsApp und Snapchat als die relevanten Drittplattformen angesehen, auf denen das Jugendangebot stattfinden muss.“ (Konzept, S. 11)
Die These ‘Wenn die jungen Menschen nicht zu uns kommen, müssen wir dorthin gehen, wo sie sich aufhalten.’ ist auf den ersten Blick plausibel.
Bei Sozialen Netzwerken liegt Facebook mit 36,8% klar in Führung, bei den Videoplattformen YouTube mit 58,3% (MedienVielfaltsMonitor der DLM, Ergebnisse 2. Halbjahr 2014, 19.03.2015). Im vergangen Jahr hat Youtube nach eigenen Angaben um 40% an Reichweite und um 50% bei der Nutzungsdauer zugelegt (Googlewatchblog, 30.04.2015)
Dabei ist die Nutzung nicht nur konsumptiv, sondern zunehmend aktiv publizierend. Die „EU Kids Online“-Studie (11/2014 unter Leitung des Hans-Bredow-Instituts) ergab, dass 59% der 11- bis 16-Jährigen 2014 im Netz Videos geschaut haben, z.B. auf Youtube, gegenüber 32% 2010. Noch rasanter war die Zunahme beim Posten von Videos oder Musik, um sie mit anderen zu teilen: von 6% 2010 auf 20% 2014. Youtuber ist ein weit verbreiteter Berufswunsch unter Jugendlichen (wie ich von dem Medienpädagogen Daniel Seitz, Mediale Pfade, gelernt habe).
Facebook zielt ebenfalls verstärkt auf Bewegtbild und hat im vergangenen Jahr seine Video-Features erweitert. Das Unternehmen behauptet Zuwächse beim Video-Playback im oberen zweistelligen Bereich und mehr als eine Milliarde pro Tag, 65% davon mobil. Einer der Gründe für den Zuwachs ist das umstrittene Auto-Play-Feature: ein eingebettetes Video beginnt zu spielen, sobald es in der Timeline sichtbar wird. Beschwerden gab es von Mobilnutzern, denen es ungewollt ihren Volumendeckel gesprengt hat (PC Pro, 08.10.2014). Inhalteanbieter scheinen das Angebot anzunehmen. Immer häufiger werden Videos auf Facebook hochgeladen, anstatt sie nur einzubetten. Popstar Beyoncé sieht es als wichtigste Plattform, um Content an ihre Fans zu kommunizieren. Auch BuzzFeed und Discovery Channel sehen Facebook vorn bei Reichweite und Interaktion (BlueDoor White-Paper, 11/2014; s.a. Bertram Gugel auf der re:publica 2015: Flüchtige Macht? YouTube im Kreuzfeuer – Facebook & Co greifen an).
Die Autoren des Konzepts sind sich des raschen Wandels im Internet bewusst. Myspace, Altavista, Studi-VZ waren zu Ihrer Zeit Marktführer. Spotify, die Nummer Eins beim Musik-Streaming, wird gerade von Tidal herausgefordert. So ist schon heute zu fragen: Ist Facebook wirklich unumgänglich, um die U30 zu erreichen? „Facebook benutze ich nur noch, um mich mit meinen Eltern und Lehrern zu unterhalten” war das Motto eines Panels auf der re:publica 2015, auf dem drei 16-Jährige der Moderatorin ihr Internet erklärten. Daher sollte das Jugendangebot seine Inhalte nicht nur auf den Plattformen der jeweils aktuellen Marktführer, sondern auch auf weiteren, auf freien und auf eigenen Plattformen platzieren.
So plausibel die These und das Konzept eines Content-Netzwerks auf Drittplattformen und einer eigene schlanken Landingpage, so problematisch sind die Konsequenzen, was 1.) Datenschutz, 2.) die Bereitstellung öffentlich finanzierter Inhalte auf kommerziellen Plattformen und 3.) die Wiedererkennbarkeit öffentlich-rechtlicher Angebote betrifft.
1.) Datenschutz
Dass die Nutzung der eigenen Plattform des Jugendangebots ohne Registrierung und Personalisierung möglich sein soll und, wo Daten gesammelt werden, die höchsten Datenschutzstandards eingehalten werden, entspricht den Erwartungen an ein öffentlich-rechtliches Angebot.
„Soweit Inhalte unter Einbeziehung von Drittplattformen verbreitet werden, wird den Nutzern im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten ebenfalls offen und transparent aufgezeigt, welche datenschutzrelevanten allg. Geschäftsbedingungen für die Nutzung der jeweiligen Drittplattformen gelten.“ (Konzept, S. 18)
Dem Nutzer nur aufzuzeigen, dass ihre Daten bei Facebook, Youtube & Co. nicht nach den strengen deutschen, europäischen Datenschutzsbestimmungen erhoben, verarbeitet und weitergegeben werden, ist keine befriedigende Lösung. Den Adressimport aus der Adressdatei des Anwenders in den Datenbestand von Facebook durch den Freundefinder-Button hatte das LG Berlin schon 2012 für illegal befunden (Az. 16 O 551/10). Apps wie WhatsApp und Snapchat lassen sich nur installieren, wenn die Nutzerin einwilligt, dass ihr gesamtes Adressbuch aus dem Smartphone an die Betreiber übertragen wird.
Zu Facebook gehören nicht nur Instagram und WhatsApp, es dient auch als Single Sign-On für andere Dienste wie Spotify und erhält so Daten aus den Apps von Drittanbietern. Mit den Anfang des Jahres geänderten AGB will das Unternehmen nun auch Daten speichern, die Nutzer auf Websites außerhalb von Facebook hinterlassen sowie Standortdaten für mobile Werbung.
Einer der schärfsten Verfechter von Grundrechten auf Facebook ist der österreichische Jurist Max Schrems, der Ende 2011 22 Anzeigen beim irischen Datenschutzbeauftragten gegen Facebook einbrachte. 2012 gründete er den Verein zur Durchsetzung des Grundrechts auf Datenschutz „europe-v-facebook.org“. Das Verfahren wird seit dem 24.03.2015 vor dem EuGH verhandelt. Mit Fbclaim.com hat Schrems 25.000 Nutzer für die größte Datenschutz-Sammelklage Europas gewonnen. Der Prozess vor dem LG Wien hat am 09.04.2015 begonnen. Zu den Vorwürfen gehören ungültige Datenschutzbestimmungen, das unrechtmäßige Sammeln und Weitergeben von Daten, das Ausspähen des Surfverhaltens der Nutzer sowie die Teilnahme am NSA-Überwachungsprogramm PRISM.
Ein ähnliches Problem stellt sich bei Apps auf Android oder iOS, die Nutzer nötigen, sich bei Google oder Apple zu registrieren und Nutzungsdaten an die Unternehmen zu schicken.
Was Arte und BR auf innovative Weise mit „Do not track“ thematisieren, muss auch das Jugendangebot in seinem Handeln im Ökosystem Internet vorbildhaft beherzigen.
2.) Öffentlich-rechtliche Inhalte auf Drittplattformen
„In allen Bereichen wird sich das Jugendangebot dadurch auszeichnen, dass es unabhängig, frei von ökonomischen Interessen und ohne versteckte Werbung informiert.“ (Konzept, S. 10)
Inhalte auf kommerzielle Plattformen zu stellen, befördert ihre Zugänglichkeit. Zugleich fördert es das Geschäftsmodell des jeweiligen Betreibers. Selbst wenn auf Facebook oder Youtube keine Werbung direkt gegen öffentlich-rechtliche Beiträge geschaltet wird, erhöhen sie die Attraktivität und damit den Wert der Plattformen.
Das Jugendangebot mag frei von eigenen ökonomischen Interessen agieren, doch in Bezug auf die Förderung der ökonomischen Interessen von Facebook, Google & Co. ist mit der Frage zu rechnen, ob Beitragsgelder dafür auftragsgemäß und verhältnismäßig verwendet werden.
Bei sozialen Netzen handelt es sich allenfalls de facto um öffentliche Räume, die aber privat betrieben werden und wie Shopping-Malls ihr jeweiliges Hausrecht erlassen. Damit machen sich ARD und ZDF von einzelnen Anbietern abhängig und sind deren Entscheidungen über technische Features und AGB ausgesetzt, die immer wieder auch urheberrechtliche Probleme aufwerfen (Z.B. bei Instagram nach dessen Übernahme durch Facebook (vgl. t3n, 19.12.2012).
3.) Identität der Öffentlich-Rechtlichen
„Mithilfe der Content-Netzwerk-Strategie ist das Angebot plattformunabhängig, zugleich aber auch eine unabhängige Plattform.“ (Konzept, S. 11)
Das Primat des Content-Netzwerks und der einzelnen Formate bedroht zudem die Identität und Wiedererkennbarkeit des öffentlich-rechtlichen Angebots.
Die starke Marke ZDF gelte im Internet „nur noch wenig, vielleicht gar nichts mehr,“ schreibt Bellut. „Im Jugendangebot gilt nun das Primat des einzelnen Formats.“ (S. 7) Zugleich heißt es im Konzept:
„Die unterschiedlichen Formate des Jugendangebots müssen wiederkennbar und untereinander verbunden sein. Diese einheitliche Tonalität muss sich über alle Plattformen und Ausspielwege erkennbar wiederfinden. Wichtig für den Erfolg des Angebots sind ein klares Profil und eine klare Haltung. …
Das Jugendangebot wird weder selbst noch mit dem Label von ARD und ZDF prominent als Inhalteanbieter auftreten. Vielmehr soll das einzelne Format Akzeptanz, Erfolg und Bindung beim Nutzer bewirken. Auf YouTube wird dieses Prinzip bereits erfolgreich praktiziert: Die Zielgruppe abonniert nicht ein Multi-Channel-Netzwerk, sondern das Format an sich. … Nicht umsonst sind die erfolgreichsten Fanpages und Twitteraccounts nicht etwa ARD, ZDF oder RTL. Es sind Tatort, heute-show oder DSDS.“ (Konzept, S. 11)
Es ist richtig, niemand hört die Platten von Universal, liest die Bücher von Holtzbrinck oder sieht die Kanäle des MCN Mediakraft. Es sind die individuellen Stimmen, die uns interessieren, nicht ihre Verlage.
Dass das Jugendangebot seine Inhalte über zahlreiche Kanäle streuen, sich auf einzelne Formate konzentrieren und diese ohne eigenes Label dennoch erkennbar zu einem großen Ganzen verbinden soll, gleicht der Quadratur des Kreises.
Es mag sein, dass alte Unterscheidungen keine Rolle mehr spielen, aber es gibt eine, die bei aller Vielfalt nicht verloren gehen darf: die zwischen öffentlich-rechtlichen Angeboten und allen anderen. Wenn der Gesellschaftsvertrag über öffentlich finanzierte Medien Bestand haben soll, müssen sie zuallererst als solche erkennbar bleiben.
Hier wäre an ein Gütesigel zu denken, nach Art von “Approved for Free Cultural Works” oder des „Fair Music“ Labels, idealerweise auf paneuropäischer Ebene zur überall wiedererkennbaren Kennzeichnung von öffentlich-rechtlichen Inhalten. Auch die Experten in der Salzburger Public Network Value Studie sehen es bei der Frage von Findability/Visability als bedeutend an, dass „glaubwürdige Logos“ sichergestellt werden, „die die Legitimität von Inhalten erhöhen, und dies speziell von Inhalten auf Plattformen dritter Parteien.“ (S. 72)
Schließlich müssen alle Inhalte, die extern ausgespielt werden, auch barrierefrei zugänglich sein, d.h. für diejenigen Beitragszahler, die Facebook & Co. nicht nutzen wollen. Eine Gesamtschau auf die aktuell verfügbaren Inhalte nach dem Vorbild von MediathekView ist für die Findbarkeit ebenso wichtig, wie eine erkennbare öffentlich-rechtliche Identität im Kontext der eigenen Inhalte.
Andere Plattformen
Konsolen
Spielekonsolen sind laut dem Digitalisierungsbericht 2014 der Medienanstalten nach Smart-TV-Geräten der zweithäufigste Internet-Zugang in ConnectedTV-Haushalten. Allerdings werden sie offenbar fast nicht (0,2%) für TV- und Videoinhalte genutzt (ibid., S. 44).
Smart-TV
2014 gaben 16% der deutschen TV-Haushalte an, über ein Smart-TV-Gerät zu verfügen, eine Steigerung von rund 45% gegenüber dem Vorjahr. Aber in nur 9,5% der Haushalte ist das Gerät tatsächlich an das Internet angeschlossen (Digitalisierungsbericht 2014 der Medienanstalten, S. 41 ff.).
Es ist sicher nicht verkehrt, mit der App des Jugendangebotes auch hier präsent zu sein. Die Nutzung geht jedoch deutlich weg vom Fernseher. Während der in der Gesamtbevölkerung zu 65,5% als wichtigstes Endgerät für die Fernseh- und Videonutzung bezeichnet wird, sind es unter den 14–19 Jährigen noch 36,6%, gefolgt vom Laptop mit 25,7%. Hier liegt der Fernseher mit 8,2% abgeschlagen auf dem vierten Platz – hinter Laptop und PC. Generell das wichtigste Gerät ist für 52,1% von ihnen das Smartphone (ibid., S. 45).
Messenger
Während soziale Netzwerke stagnieren, zeigen Messaging-Dienste einen rasanten Zuwachs. Bei den U30 sind Chats und Messenger die wichtigsten Online-Angebote (AGOF Internet Facts 2015-03). Das ist allen voran WhatsApp, das Facebook Anfang 2014 kaufte, da die Facebook-eigene Messenger-App die Erwartungen des Unternehmens nicht erfüllte. Auch Wettbewerber wie Snapchat, Line, Wechat, Microsoft Skype, Google Hangout usw. wachsen derzeit. Neben proprietären Lösungen gibt es freie Alternativen wie den Klassiker IRC, das offene Extensible Messaging and Presence Protocol (XMPP, vormals Jabber), GNU social, Signal 2.0 und WebRTC.
Im Unterschied zu sozialen Netzwerken ist die Kommunikation hier privat und nicht öffentlich oder gruppenöffentlich. Daher ist sie der Nutzungsforschung bislang kaum zugänglich. „Die Undurchsichtigkeit ist einer der wichtigsten Gründe für die Popularität der Messaging-Apps: Jugendliche verlassen vor allem in den USA Facebook, weil sie nicht von ihren Eltern und Lehrern beobachtet werden wollen.“ (Goldmedia Trendmonitor 2015, S. 11)
Ob Messenger sich medienkulturell für öffentliche Kommunikation eignen, ist noch unklar. ARD-aktuell und das Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ) entwickeln derzeit eine neue Nachrichtenplattform via Messenger-Dienst. Dabei steht vor allem die jüngere Zielgruppe im Fokus (14-29-Jährige). Als praktisches Versuchsfeld nennen sie z.B. Snapchat.
Für die eigenen Präsenzen des Jugendangebots sind offene, datenschutzgehärtete Standards wie XMPP/OTR, GNU social und Signal 2.0 die einzig mögliche Lösung.
Was sind die Alternativen?
Wie kann das Jugendangebot sich zu dem Dilemma der monopolistischen, US-amerikanischen Social Media Plattformen verhalten? Grundsätzlich sind drei Strategien vorstellbar: 1.) ein eigenes öffentlich-rechtliches Youtube, Facebook etc., 2.) alternative Plattformen und 3.) wenn sie sich denn – noch nicht – vermeiden lassen, ein Einwirken auf Facebook, Youtube & Co, um zumindest die datenschutzrechtlichen Probleme anzugehen.
„Alternativlos“ war Unwort des Jahres 2010. Es gibt immer Alternativen:
- Diaspora, Friendica und Synero statt Facebook
- XMPP/OTR, GNU social, Telegram oder Signal 2.0 statt Twitter/WhatsApp
- Internet Archive, Wikimedia Commons oder OwnTube statt Youtube
- OpenStreetMap statt Google-Maps.
- YaCy statt Google-Suche
- OwnCloud statt Dropbox/Google/Apple etc.
1.) Eigene Infrastrukturen
Post-Snowden ist „kritische Infrastruktur“ zum Schlüsselwort geworden. Dazu gehören Projekte für eine Deutsche Cloud, Europäische Cloud, Deutschland-interne Email oder Schengen-Routing und eines für einen europäischen Suchmaschinenindex.
Wäre ein deutsches oder gar europäisches öffentlich-rechtliches Youtube oder Facebook denkbar? Unmöglich wäre es nicht, wenn es den politischen Willen gäbe, die erforderliche Mittel bereitzustellen. Und es gibt Hinweise, dass es zu den Erwartungen der Gesellschaft an die Öffentlich-Rechtlichen gehört. Die Public Network Value-Studie der Universität Salzburg ergab, dass nach Expertenmeinung die Bedeutung der Platzierung von öffentlich-rechtlichen Angeboten in Sozialen Netzwerken und die Entwicklung eines eigenständigen Sozialen Netzwerks in der gesellschaftlichen Erwartungshaltung gleichauf liegen (S. 81).
Markus Hündgen, Veranstalter des Deutschen Webvideopreises, fordert genau das: Im zunehmend wichtigen Bereich der Webvideos klaffe eine Lücke: journalistische, edukative und künstlerische Inhalte. Ein Marktversagen, dem durch ein „öffentlich-rechtliches YouTube“ begegnet werden müsse, das ein werbefreies Umfeld für qualitätsvolle Inhalte bieten würde.
2.) Alternative Plattformen in DE/EU?
Die VZ Netzwerke sind 2005 gegründet und 2011 von Facebook überholt worden und seither im Niedergang. 2012 wurde das Unternehmen zu poolworks (Germany) Ltd. umfirmiert. Im selben Jahr verkaufte es die Holtzbrinck-Gruppe an das Investmentunternehmen Vert Capital. Laut Unternehmens-Blog geht es weiter. Möglicherweise könnte eine Partnerschaft mit dem Jugendangebot sie wieder stärken.
Bei Video-Plattformen würde schon die Nutzung von MyVideo oder Vimeo die Marktmacht von Youtube eindämmen helfen. Besser wäre auch hier eine Zusammenarbeit mit nichtkommerziellen Plattformen wie dem Internet Archive oder Wikimedia Commons.
Vor allem aber gibt es dezentrale Alternativen zu Facebook wie Diaspora, Friendica oder das neue Projekt Synero. Für Mikroblogging gibt es als Alternativen zu Twitter GNU social, z.B. die deutsche Instanz Gnusocial.de oder ein in Schweden laufendes Quitter.
In dem Bewusstsein, dass sich das Schicksal einer dominanten Plattform durch die nächste große Idee schnell wenden kann, gilt es für einen öffentlich-rechtlichen Akteur, vor allem freie, datenschutzgehärtete, dezentrale Alternativen zu fördern.
3.) Oder doch Facebook & Co?
Facebook und Youtube machen ohne Frage einen relevanten Teil der Netzöffentlichkeit aus. Dass die Goliaths nicht unangreifbar sind, zeigt der österreichische Jurist Max Schrems. Was eine Einzelperson und eine Schar Gleichgesinnter können, können und sollen auch die europäischen Öffentlich-Rechtlichen, die mit einem gemeinsamen Umsatz von 33 Milliarden Euro pro Jahr ein erhebliches Gewicht in die Waagschale legen, um den Interessen von Datenschutz, verbraucherfreundlichen AGB und Profilportabilität Nachruck zu verleihen. Um einem Lock-in zu entgehen und damit Wettbewerb zu stärken, muss insbesondere auf eine Portabilität des eigenen Profils auf andere Plattformen nach dem Vorbild der Rufnummernmitnahme hingearbeitet werden.
Ökosystem
Wenn sich die Öffentlich-Rechtlichen ins Internet begeben, werden sie Teil des Ökosystems. Daher müssen sie nicht nur darüber berichten und Aufklärung und Medienkompetenz schaffen, sondern auch mit gutem Beispiel vorangehen.
- Breitbandausbau – Wenn von allen Haushalten Beiträge gezahlt werden für ein online-only Angebot, müssen auch alle Haushalte die Möglichkeit haben es wahrzunehmen. Die Mabb fördert z.B. Freifunk mit der Broschüre „WLAN für alle. Freie Funknetze in der Praxis“ sowie mit finanzieller Unterstützung.
- Netzneutralität – Die Kooperative Berlin stellte auf der re:publica 2015 ihre Thesen zu öffentlich-rechtlichen Medien 2020 vor. Darin fordern sie einerseits Netzneutralität, aber zugleich sollen öffentlich-rechtliche Inhalte von Mobil-Providern durchgeleitet werden, ohne auf das gedeckelte Datenvolumen angerechnet zu werden. Dem Vorschlag gehen die unrühmlichen Beispiele von Wikipedia-Zero, Facebook-Zero und Google Free Zone voran. Bei Wikipedia und Öffentlich-Rechtlichen besteht die öffentliche Erwartung, dass sie nicht nur ihre partikularen Interessen verfolgen. Inhaltlich haben sie ohnehin einen universalen Anspruch. Daher kann es für sie nicht um Gruppenegoismus gehen, sondern nur um eine universale Lösung für Zugang und Netzneutralität.
- Suchneutralität – Für die eigenen Plattformen des Jugendangebots wäre daran zu denken, statt Google als Suchmaschine zu verwenden, einen eigenen YaCy-Knoten zu betreiben.
- Urheberecht – Im Großen läuft dazu derzeit eine grundlegende EU-Reform (s. z.B. Julia Reda auf dem Wikimedia-Salon, 08.05.2015). Im Kleinen des Jugendangebots muss es ebenso um den Ausgleich der Interessen von Urhebern und Nutzern gehen: angemessene Vergütung und Freiheit zur Weiterverbreitung und Veränderung.
- Offene Standards – Barrierefreiheit auch technisch. Die Zeiten von Flash und DRM sind vorbei.
- Datenschutz – Nutzungsmessung nur nach strengem deutschem Recht (vgl. Trackography von Tactical Tech).
Auch hier bieten sich öffentliche und zivilgesellschaftliche Partner an:
- EDRi, die European Digital Rights initiative
- Netzpolitik, das führende Blog zu dem Thema in Deutschland
- Digitale Gesellschaft e.V., die NGO für eine offene und freie digitale Gesellschaft [Caveat: ich bin Mitglied]
- La Quadrature du Net, eine französische netzpolitische NGO mit Wirkung in ganz Europa
Öffentlich-rechtliche Medien sind kategorial vom Markt verschieden
„Das Angebot verfolgt nicht den Zweck, Nutzerinnen und Nutzer zu Kunden zu machen.“ (Konzept, S. 5)
Das Gegenüber der Öffentlich-Rechtlichen sind keine „Kunden“ oder Konsumenten, sondern die Bürgerinnen und Bürger, die diese journalistisch-redaktionelle Selbstbeobachtung der Gesellschaft im öffentlichen Interesse beauftragen, bezahlen und kontrollieren. Bürger und Öffentlich-Rechtliche haben eine Art Rousseauschen Gesellschaftsvertrag miteinander geschlossen. Der schafft einen vom Markt kategorial verschiedenen Raum.
Mit marktlichen Gründen wird das öffentlich-rechtliche System aktuell aus verschiedenen Richtungen in Frage gestellt. Dazu gehören neoliberale Stimmen aus der Wissenschaft, die eine Abschaffung oder zumindest Beschränkung auf Subsidiarität fordern, darunter der wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium in seinem Gutachten vom Dezember 1014 und Justus Haucap, Professor für Volkswirtschaftslehre der Heine-Universität Düsseldorf und einstiger Vorsitzender der Monopolkommission, in seinem Gutachten über eine „liberale Rundfunkordnung“ für das „Freiheitsinstitut Prometheus“ des Ex-FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler, das damit die Kampagne „Zwangsbeitrag? Nein Danke!“ befeuert.
Kampagnen und Petitionen, die die „GEZ abschaffen“ wollen, erhalten regelmäßig Zehntausende Unterschriften in wenigen Stunden. Eine der größten ist „Abschaffung der GEZ – Keine Zwangsfinanzierung von Medienkonzernen“, gestartet von Luigi C. und gerichtet an das Bundesverfassungsgericht. Nach einem guten Jahr hat sie über eine halbe Million Unterschriften gesammelt. Beim Rundfunkbeitrag-Zahlungsstreik, der seit Juli 2013 läuft, haben sich 5.885 Menschen dazu bekannt, Rundfunkbeiträge in Höhe von 2.330.693,46 € zurückzuhalten (01.06.2015). Die jüngste Petition ist im April 2015 gestartet: „Genug abGEZockt: Rundfunkbeitrag abschalten!“ von der Alternative für Deutschland – „als Partei die einzige, die sich gezielt gegen die GEZ wendet.“ Diese Kampagne ist gerichtet auf die Petitionssysteme der Landtage. So will die Volksinitiative NRW innerhalb eines Jahres mindestens 66.000 Unterschriften sammeln, ausschließlich offline, um das Landesparlament dazu zu bringen, sich mit einer Aufkündigung des Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrags zu befassen. Matthias Gellner, Vorstandsmitglied der AfD Bottrop, verlautbarte dazu (Lokalkompass.de, 15.04.2015) eine Kurzzusammenfassung des BMF-Gutachtens. Subsidiarität, Steuern oder nutzungsabhängige Gebühren, das Loblied des Rundfunk- und Pressemarktes – alles da, nur keine Quellenangabe.
Neben neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern und Volkes Stimme droht dem öffentlich-rechtlichen System auch Gefahr aus den USA. Nach konsistenten Beteuerungen, dass Kultur und Medien im Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP ausgenommen bleiben, geht es in der Schlussphase genau darum, audiovisuelle Produkte und Dienstleistungen als ganz gewöhnlichen und damit zu öffnenden Markt zu definieren (vgl. Tabea Rößner, Medienkorrespondenz, 06.03.2015).
Noch sind ZDF und ARD nicht in ihrer Existenz bedroht, doch sind diese Anfeindungen eine Herausforderung, ihre Eigenständigkeit und kategoriale Verschiedenheit stark zu machen, um tatsächlich das Andere im dualen System zu werden und den Angriffen eine klare Absage zu erteilen und damit Akzeptanz bei ihren Auftraggebern zu gewinnen.
Laut MedienVielfaltsMonitor der DLM (Ergebnisse 2. Halbjahr 2014, 19.03.2015) liegen im Gesamt-Meinungsmarkt, in den das Internet mit einem ermittelten Gewicht von 20,2% eingeht, öffentlich-rechtliche und private Medien etwa gleich auf. Im Meinungsmarkt Internet dagegen hatte Axel Springer den größten Anteil mit insgesamt 10,7%, gefolgt von Bertelsmann mit 9,6%, United Internet (9,5%), Burda (7,9%) und erst an fünfter Stelle ARD (6,2%, ZDF: 1,3%).
Im Netz gibt es eine unendliche Stimmenvielfalt, nur eines gibt es ohne die Öffentlich-Rechtlichen nicht: eben diese Selbstbeobachtung der Gesellschaft im öffentlichen Interesse und Auftrag, unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Interessen, qualitätgesichert nach den höchsten journalistisch-redaktionellen Standards, der Gesellschaft Rechenschaft leistend, mit einer Perspektive auf die Vielfalt des Gesellschaftsganzen, die, wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont hat, der Markt aufgrund der „spezifischen Eigenrationalität des privatwirtschaftlichen Rundfunks“ nicht übernehme, der zudem einem erheblichen Konzentrationsdruck unterstehe (so im jüngsten Urteil zum ZDF-Fernsehrat vom 25.03.2014). Wenn aber ARD und ZDF etwas grundlegend vom Markt Verschiedenes leisten, sind sie nicht auf demselben Spielfeld wie private Medienunternehmen und können Fragen nach marktlichen Auswirkungen gelassen begegnen.
Es bleiben jedoch zwei Herausforderungen. Das Jugendangebot muss die Köpfe und Herzen der U30 erobern. In einer Medienumwelt, die von kommerziellen Angeboten bestimmt wird, und den zentrifugalen Kräften eines Format-orientierten Content-Netzwerks ausgesetzt, wird das kein einfaches Unterfangen.
Zum anderen ist die Medienregulierung in Bewegung gekommen. Auch über ARD und ZDF hinaus ist die Frage zu stellen: Was sind gesellschaftlich gewünschte Inhalte, welche Angebote sind im Interesse einer demokratiekonstitutiven Öffentlichkeit und Vielfalt schützenswert? (vgl. z.B.: Medienquartett mit Carsten Brosda, Hans Hege, Wolfgang Schulz und Hajo Schumacher, Deutschlandfunk, 29.05.15.)
Für beide Fragen ist „Public Value“ ein Schlüsselbegriff, um eine im Internet sozialisierte Jugendkultur von Dialog und Partizipation anzusprechen. Das Konzept hat der Harvard-Verwaltungswissenschaftler Mark Moore 1995 dem neoliberalen New Public Management der 1990er Jahre entgegengesetzt. Dieses legte den Fokus auf individualisierte Leistungen in Bibliotheken, Arbeits- und Sozialämtern an Bürger, die nun „Kunden“ genannt wurden. Demgegenüber tritt bei Moore das öffentliche Interesse in den Vordergrund, das etwas anderes ist, als die Summe der individuellen Interessen. Public Value sei Gegenstand der öffentlichen Aushandlung der kollektiv artikulierten und politisch vermittelten Präferenzen der Bürger. Aufgabe des Public Managers ist es nicht in erster Linie, Ergebnisse zu liefern, sondern als Diplomat einen konsultativen, kooperativen Prozess zu lenken, der alle ‘Stakeholder’ einbezieht und auf eine umfassende Vorstellung von Gemeinwohl zielt. Das Maß seiner Leistung sind nicht nur Resultate, sondern Legitimität, Fairness und Vertrauen. Die BBC griff das Konzept 2004 vor der turnusmäßigen Erneuerung ihrer Charter auf und lud mit einem Grundlagendokument zu einer informierten öffentlichen Debatte ein, um einen Konsens über ihre weitere Entwicklung zu schaffen: Building Public Value: Renewing the BBC for the Digital World (vgl. Grassmuck, Von Daseinsfürsorge zu Public Value).
Zentrale Aufgabe des Jugendangebots ist es daher zu vermitteln, dass es neben dem Markt einen öffentlichen und einen zivilgesellschaftlichen Sektor gibt, die jeweils nach anderen Regeln funktionieren. Nur wenn es gelingt, den jungen Beitragszahlern diesen kategorialen Unterschied kenntlich und verständlich zu machen, wird sich der Gesellschaftsvertrag in das Internet-Zeitalter fortschreiben lassen.
Fazit
Mit dem Jugendangebot begeben sich ARD und ZDF auf Neuland. Statt das Rad neu zu erfinden, bieten sich Kooperationen mit denen an, die bereits eines am Rollen haben. Dass Florian Hager zum Auftakt das Gespräch mit Youtube-Stars gesucht hat, stimmt optimistisch. Wenn diese Gesprächsoffenheit für vielfältige Partnerschaften zu einem Merkmal des Jugendangebotes wird, hat es eine gute Chance, die Online-Medienlandschaft nachhaltig zu bereichern. Hier wäre, wie dargelegt, vor allem an andere Wissenseinrichtungen der öffentlichen Hand wie die Bundeszentrale für politische Bildung, Museen, die Wissenschaften und die Zivilgesellschaft wie Wikipedia oder Open Knowledge Foundation zu denken – um Bestehendes zu verstärken und nicht zuletzt unter Kostengesichtspunkten.
Die große Gefahr ist, dass das Jugendangebot zum Alibi dafür wird, nicht über eine Generalreform des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems zu reden. Eine Content-Strategie, die nicht auch strukturverändernd wirkt, kann nicht nachhaltig sein. Content ist gar nicht das Problem. Davon haben ARD und ZDF reichlich, den können sie. Aber es reicht nicht, ihn nur neu zu formatieren und im Internet zu verbreiten, auch die Institutionen, die ihn erschaffen, müssen vom Internet aus neu gedacht werden.
Die große Chance liegt darin, dass der Elefant tatsächlich durch das Nadelöhr Jugendkanal geht. Dass sich an ihm die Möglichkeit erweist, jungen Menschen von ihnen gewünschten und gewürdigten Public Value anzubieten und sie in einem horizontalen Medium zu Partnern und Teilhabern zu machen. Wenn wir ehrlich sind, bräuchte es für eine faire Chance nicht 45, sondern 450 Millionen, was wiederum auf einen notwendig damit einhergehenden Auftrag zu einer Generalreform der Anstalten verweist. Schließlich trägt das Jugendangebot die ganze Bürde nicht nur von digitalem Medienwandel und Generationenabriss, sondern die, wahrgenommenen und nicht nur anhand von Quoten gemessenen Public Value zu schaffen, ARD und ZDF insgesamt zu verjüngen und zu digitalisieren und damit neue Formen der Legitimation zu finden für Medien, die wir alle beauftragen, bezahlen und kontrollieren.
Enden möchte ich mit Katharine Viner vom Guardian:
„Lasst uns also ein Teil des Ökosystems Internet werden. Lasst uns bewährte journalistische Verfahren mit neuen Wegen kombinieren, um Geschichten zu finden und zu erzählen. Lasst uns offen sein, und lasst uns die Leute, die früher Publikum genannt wurden, in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen. … Journalisten oder Blogger oder Aktivisten oder Leser? Die Zukunft des Journalismus sind sie alle zusammen.“