Die Kirschblüte und der (Atom-)Müll

Zum Gedenken an den ersten Jahrestag von Fukushima hier ein Radiobeitrag aus dem Jahr 1993. Mit besonderem Dank an Mariko Kanda, Gerhard Hackner und Itô Takahashi für die Reise nach Aomori damals und dafür, dass Gehard mich an dieses gemeinsame Projekt erinnert hat.

Die Kirschblüte und der Müll, SFB3, 1993 (MP3, 58:46)


Die Kirschblüte und der Müll

Kreisläufe in Japans Naturverhältnis und Atomprogramm

(August 1993)

für: Studio 3 auf SFB 3
Redaktion: Eberhard Sens
Autor: Volker Grassmuck
Produktion: ?
Sendung: September 1993
Sprecher
Icherzähler: ?
Zitator: ?
Sprecher für O-Ton: ?
Regie: ?
Assistenz: ?
Ton: ?
Technik: ?

Anm.: Japanische Namen werden in der westlichen Reihenfolge genannt, also <Vorname> <Familienname>

1. Atmo rotenburo, (Plätschern von Wasser), unterlegen bis Musik

Icherzähler Heißes Wasser… Ganz Körper… Der sich augenblick­lich entspannt… nach und nach komme ich aus meinen Sinnen wieder ins Denken zurück… Was ich mit einem weiteren Schluck Sake in angenehmen Grenzen zu halten weiß… Die Szenerie möge man sich etwa so vorstellen:

Heißes Wasser, das aus der Erde in ein Stein­becken fließt. Dampf steigt auf. Drumrum liegen noch Flecken von altem Schnee – es ist Anfang April. Der Schritt aus den Klei­dern ins rotenburo war nicht leichtgefallen. Darin nackte Menschen, die Sake trinken. Das Becken in einem Tal mit einem wilden jungen Fluß. Nach 10 Minuten in über 40 Grad lädt der Bergbach zu einem Abstecher in die Kälte ein. Die Thermalquelle ist überstanden von Zypres­sen. Yagen heißt der Ort. Am Hang des Vulkans Osore-zan , in der Provinz Aomori , auf der Shimokita-Halbinsel, dem nördlichsten, wie eine Axt geformten Zipfel von Honshu , Japan, Erde, Sonnensystem, Milchstraße. Letztere funkelt gerade in voller Pracht über uns.

1. Musik [Shonosuke ôkura], ersatzweise: Hôzan Yamamoto, Shakuhachi [COCF-9383], 4. Dai-yon-fûdô von 3’27” bis 5’14”. überblenden auf 1.Atmo., 20″ stehen lassen, dann unterlegen bis “… driften die Gedanken”.

Ich. Wir sind seit drei Tagen unterwegs in dieser ver­träum­ten Gegend. Auf Recherche über japanisches Um­weltverhältnis in Theorie und Praxis. Wir, das sind die Bibliothekarin Mariko Kanda , Gerhard Hackner, der an der Tsukuba-Universität Deutsch und Literatur unterrichtet und das Buch “Die Anderen Japaner” i herausgeben hat, und der ehemalige Agenturjournalist Itô Takahashi , der seit Jahren in der Anti-AKW-Bewegung hier oben engagiert ist.

Viel habe ich zu hören bekommen über die wirt­schaftliche Zwangslage der ärmsten Präfektur Japans, die es als gute Idee hat erscheinen lassen, hier die Müll-Zentrale der Atomin­dustrie anzusiedeln. Die Zeit für Dornröschenträume ist lange vorbei. Einiges habe ich auch gelernt über das ‘unver­­dorbene’, ‘eigentliche’ Japan, das vermeintlich noch unter dem Japan der high-tech virtual realities schlum­mert. Ein Japan der Naturverbundenheit und der sinnlichen Genüsse. Denen ich mich nach langen Autofahrten und zahlrei­chen Interviews nur zu bereit­willig hingebe.

Träge driften die Gedanken…

Naturbelassene Landschaft ist im heutigen Japan gleichbedeutend mit Gebirge. Durch ihre Unzu­gäng­lich­keit sind 80 Prozent des japanischen Archipels nur unter Mühen für Menschen nutzbar zu machen. In den Bergen erhält sich die Sphäre der wilden Tiere und die Nähe zu den Göttern und den Ahnen. Noch heute praktizieren die Yamabushi – wörtlich “die in den Bergen sich nieder­legen” – den beschwerlichen Weg der Bergasketen. Ihr wichtigstes Ritual, der Einstieg in den Berg, zielt auf eine Vereinigung mit der Gottheit ab, die der Berg ist oder die auf ihm residiert. In ihrem legendären Gründerahn En no Gyôja , dem Großen Pilgerer En, verdichtet sich mög­licherweise die kulturelle Erin­nerung der nomadi­sierenden Bergstämme, die vor rund 10.000 Jahren Japan bewohnten.

3. O-Ton Jap. Kanda und Takahashi (1’44”)

Übersetz. “Die Geschichte des ôyamazumi-Schreins

In diesem Shintô-Schrein wird die Gottheit ôyamazumi-no-mikoto verehrt.

Sie ist eine zeitweilige Erscheinung der buddhis­tischen Göttin der Barmherzigkeit Kanzeion . Ihr jährliches Festival findet am 16. und 17. Mai statt.

Im ersten Jahr des Zeitalters Jôkyô (1684) wurde für die Verbreitung des Bergglaubens und alle leben­den Wesen gebetet, und die ursprünglich buddhistische Gottheit ôyamazumi (Berggottheit) in den Schrein aufgenommen.

Im nächsten Jahr hat auf dem neu-Berg des Komena-Bezirks eine wachsende Zahl von Soldaten Kanzeion (Kannon-samma) um Hilfe angerufen. Bis zur Edo-Zeit, 1603, wurde sie als Komena-Kanzeion be­zeichnet. Gemäß der Meiji-Verordnung von der Tren­nung von Shintô und Buddhismus aus dem Jahr 1868 wurde der Name in ôyamazumi-Schrein geändert und die Gottheit an ihrem gegenwärtigen Ort einge­schreint.

Es heißt, daß früher die Schiffe Benjai, Kitaguni und Hirata (Frachtschiffe für Feldfrüchte und andere Güter) den Fluß ôhatagawa bis Komena hochgefahren seien. Es wird gesagt, daß die Göttin Kannon in den Nächten mit dichtem Flußnebel wie ein Leuchtturm ihr Licht ausstrahlte und damit den Schiffern geholfen habe.

Weiterhin wird berichtet, daß im neunten Jahr der Tempô-Zeitrechnung (1838) ein Waldbrand auf dem Hairo-Berg vier Tage und drei Nächte wütete. Obwohl die Kannon-Halle vom Feuer verzehrt wurde, blieb die darin eingeschreinte Göttin Kannon wie durch ein Wunder von den Flammen verschont.

Diese Tafel ist gestiftet von der Bildungs-Kommis­sion der Stadt ôhata.”

Ich. Im Text dieser Schreintafel, die Kanda und Takahashi uns vorgelesen haben, steckt eine ganze Religionsge­schichte. Von ältester Bergverehrung über den Shintô, der in der Heian-Periode – von 794 bis 1192 nach unserer Zeitrechnung – vom Buddhismus überlagert wurde. Die beiden Glau­bensformen führen keinen Verdrängungs­kampf, sondern schieben sich ineinander. Die Shintô-Gottheit ôyamazumi erscheint daraufhin als Avatar – als vorübergehende Erscheinungsform – der buddhis­tischen Göttin der Barmherzigkeit. Die Ver­mischung bestand im 17. Jahrhundert, als dieser Schrein ge­gründet wurde, fort. 1868, nach der Öffnung des Landes und auf der Suche nach einem Anker für die nationale Identität wurde der Shinto­ismus zur Staats­religion erklärt. Die Buddhisten und auch die ur-japanischen Yamabushi hatten bis zur Einführung der Religionsfreiheit nach dem 2. Weltkrieg darunter zu leiden. Die buddhistische Kannon wurde zu dieser Zeit wieder zur shintoistischen ôyamazumi .

Die Gottheit des Berges und des Waldes, Yama no Kami, erscheint in vielfältiger Gestalt. Mal ist der Berg Sitz oder Besitz einer animistisch oder personifi­ziert gedachten Gottheit, mal wird der Wald selbst als Numinoses begriffen. Dazu kommen regionale und berufs­ständische Varian­ten. Für die Reisbauern der Ebene weilt die Gottheit, die im Sommer über die Felder wacht, im Winter als yama no kami in den Bergen. Für die Jäger ist sie die Herrin der Tiere und wird dargestellt als weißer Hirsch oder Eber. Für die Holzfäller wacht sie über den Boden und den Wald. Ihr wird geopfert, bevor Bäume für Haus- oder Boots­bau geschlagen werden. ii Und wie wir von der Schrein­tafel erfahren haben, leuchtet die Berggöttin den Flußschiffern bei Nebel, und zugleich ist ihre Statue auf wundersame Weise feuerfest.

4. O-Ton Jap. Kenzô Kobayashi (0’03”)

Maa hitotsu no bunka desu-ne, korewa.”

Ich. “Das ist eine Kultur”, sagt Kenzô Kobayashi . Die Schrein-Tafel liegt gerade in der Trockenkammer einer Tischlerwerkstatt für Zypressen-Holz, die wir zufällig auf unserer Erkundungstour entdeckt haben. Im angeschlos­senem Verkaufsraum sind Küchen- und Badeutensilien ausgestellt – diese Art der japanischen Zypresse ist wasserbeständig und hat anti-bakterielle Wirkungen. Außerdem feines Räucherwerk für Begräb­nisse und ätherische Öle ebenfalls aus der Zypresse. Schließlich Möbel, dekorative Platten und – Kamisama, also Verkörperungen von Gottheiten für die Ziernische. Diese ‘Gotteskörper’ sind weitgehend natürlich belas­sene, knorpelige Wurzel-Figuren, in die zuweilen Holzwürmer mysteriöse Schriftzei­chen eingraviert haben. Kobayashi, der 70-jährige, rüstige Chef der Holzwerkstatt ist pessimistisch über die Zukunft dieser einen Kultur:

5. O-Ton Jap. Kobayashi (1’29”)

Übersetz. “Die Bürokraten denken nur an den unmittelbaren Ertrag und lassen die ökologischen Gesichtspunkte des Waldes außer Betracht. Darüber sind die lokalen Leute erzürnt. Unsere Vorfahren haben den Wald sehr gepflegt.

Früher wurde jedem der Kopf abgeschlagen, der ohne Erlaubnis eine einzige Zypresse schlug. Ein gewisser Nakajima, der sich für seinen Schiffsmast einen Hiba-Baum fällte wurde noch Mitte des 19. Jahr­hunderts am Strand enthauptet. So streng in bezug auf den Berg waren die Ahnen. Aber jetzt… Wir hier in der Gegend fragen uns alle, ob das wirklich gut ist.

Im Frühling kann man besonders gut sehen, wieviel schon abgeholzt ist. So wird unsere Bergarbeit irgendwann überflüssig. Da werden die Leute, deren Arbeit das ist, natürlich ärgerlich. Wir haben deshalb große Zweifel gegenüber dem, was das Forstministe­rium macht, nämlich bei uns Bäume schlagen, um in anderen Abteilungen die Haushaltslöcher zu stopfen.

Die Bäume, die heute verarbeitet werden, sind ge­wach­sen, als Matsuo Bashô in Tôhoku gereist ist, vor 300 Jahren. Wenn man sich das überlegt, versteht man, was für ein Segen der Wald war.”

Ich. Der Haiku-Dichter Matsuo Bashô ist einer der Haupt­verantwortlichen für die westliche Vorstellung von der besonderen Natur-Sensibilität der Japaner. Das Bild einer Kultur des Einklangs von Mensch und Natur.

Zitat “Folge der Natur und kehre zur Natur zurück,

um vollständig eins mit ihr zu sein.” iii

Ich. Und Bashôs Schüler Dohô führt aus:

Zitat “Wenn Du eine willkürliche Auslegung der Dinge vermeidest, solltest Du eine vollständige Einheit mit der Natur ohne jede subjektive Verzerrung erlangen.” iv

Ich. Bashôs letzte große Reise im Jahre 1689 führte ihn nach Tôhoku, den Nordteil der Hauptinsel Honshu, wenn auch nicht ganz bis in die heutige Präfektur Aomori, in der wir auf den Fährten des Mülls unter­wegs sind. Den Titel seines poetischen Reisetagebuches “Oku no hosomichi” hat Dombradi mit “Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland” ins Deutsche übertragen.v Er erläutert:

Zitat “denn der ‘tiefe’ Norden am Ende der damals bekann­ten japanischen Inselwelt, der nur auf unwegsamen Pfaden erreichbar war, besaß eine seit alters tradierte magische Anziehungskraft für viele Dichter.” vi

Ich. Trotz aller Unwegsamkeit wanderte Bashô poetisch auf ausgetretenen Pfaden. Die aufgesuchten Stätten waren fast ausnahmslos bekannte Ort, als uta-makura , Gedichtskopfkissen, bezeichnet. Historische Stätten, an denen großer Mut bewiesen wurde. Orte, die besonders geeignet sind für die Mondschau oder den Zug der Kraniche. Kopfkissen-Orte sind seit Menschengedenk immer wieder bedichtet worden. Sie bildeten einen Kanon von Jahreszeiten-Wörtern und Stimmungen, den jeder literarisch Gebildete, und das heißt Aktive, parat hatte. In geselliger Runde konnte Beifall ernten, wer durch ein kurzes Zitat ein klassisches Gedicht anklingen ließ und auf dessen Schultern eine Stim­mung variierte oder einen anderen Gedanken entge­genstellte.

Auf seiner Reise ins nördliche Hinterland besucht Bashô die sogenannte ‘Urnenstele’ in der Nähe des Dorfes Ichikawa , deren Inschrift besagt, daß hier im Jahre 764, also über 900 Jahre früher, eine Burg errichtet worden sei. Dort schreibt er:

Zitat “An Orten, die als ‘Gedicht-Kissen’ dienen, da man von alters her nicht aufgehört hat, sie zu bedichten, sind uns viele überliefert worden. [… Es] ändern sich die Zeiten und wechseln Menschengenerationen: die verbleibenden Spuren sind meist fraglicher Natur. Hier aber handelt es sich ohne Zweifel um ein tausendjähri­ges Erinnerungsstück, das mir hier und jetzt – vor meinen eigenen Augen – die geistige Haltung derer aus jenen alten Zeiten enthüllt. Darin liegt der ver­dientstvolle Vorteil einer ‘Wanderübung’, dies gehört zu den ‘Freuden unseres Daseins’. Vergessen waren alle Beschwerden der Reise – Tränen traten mir in die Augen…” vii

Ich. Bei näherem Hinsehen ist der vermeintliche Natur­lyriker Bashô also garnicht unterwegs in einer materi­ellen Natur, sondern vielmehr in einer Landschaft aus Zeichen, in dem lexikonartigen Gedächtnis der Litera­turgeschichte. Selbst die “Freude unseres Daseins”, die Bashô die Tränen der Rührung in die Augen treibt, ist geborgt. Sie stammt aus dem Tsurezuregusa , den “Betrachtungen über den Müßiggang” aus dem frühen 14. Jahrhundert.

Die Kopfkissen-Orte sind noch da – Yagen, das Thermalbad, in dem wir die Sendung begannen, ist einer davon – wenn auch nicht viele noch zu Fuß zu ihnen pilgern. Aber die Zypressen von damals sind abgeholzt, ohne daß neue nachwüchsen.

Tischlermeister Kobayashi steht am kurzen Ende des gebrochenen Bandes mit der Natur. Am anderen Ende steht eine urbane Warenwirtschaft, die allem Glauben und aller Vernunft gegenüber gleichgültig ist.

6. O-Ton Jap. Kobayashi-san (1’29”)

Übersetz. “Länder, die ihre Wälder vernichten, werden selbst untergehen. Die alten Griechen haben auch so mit dem Holz gewirtschaftet… Wenn der Berg abgeholzt ist, wird die Humusschicht vom Regen ins Meer gespült und die Fische verschwinden auch. Daraus sollte man eine Lehre ziehen, aber heute… Das wird an den Schulen nicht beigebracht. Was gelehrt wird ist, wenn du etwas für 100 Yen einkaufst, mußt du’s für 200 Yen verkaufen. Die Zypressen brauchen 200 bis 300 Jahren, aber in solchen Zyklen denkt niemand. In Japan ist nichts unmöglich… [lachend:] Japan wird ebenfalls nicht mehr lange bestehen!

Eine Bewegung dagegen gibt es schon, aber… Die oben hören nicht auf die Stimme der Bürger, in Japan… [Lachen.] Ich bin 70 Jahre alt und noch fit. Wenn man mit Holz arbeitet, ist das gut für den Körper. Man sollte die Bäume nicht nur als Profit­quelle sehen.”

Ich. “In solchen Zyklen denkt niemand mehr”. Zyklen von Werden und Vergehen. Geld ist schneller als Natur. Die heute entscheidenden Zyklen sind die von Ab­schreibung, Rendite und Haushaltsplanung.

Von ‘Cycle’ ist auch die Rede beim Kernbrennstoff-Kreislauf, der hier im Bezirk Aomori im Norden der japanischen Halbinsel entsteht. Darunter versteht man die Herstellung, Verwendung, Wiederverwendung und schließlich Entsorgung von nuklearem Brennstoff für die Stromerzeugung. Das Wort soll Vorstellungen von Recycling erwecken, von einer geschlossenen atomaren Kreislaufwirtschaft, die den gesamten Lebenszyklus des Produkts, also auch seinen Tod umfasst. Eine ‘runde Sache’, sozusagen. Doch bei näherem Hinsehen handelt es sich eher um eine Gerade mit offenen Abzweigungen: von den radioak­tiv verseuchten Uran­abbaugebieten durch eine einzige Runde von Wieder­aufarbeitung ins Ungewisse.

Was am anderen Ende mit dem radioaktiven Müll geschieht und wie man verhindern kann, daß er weitere Kreise zieht, weiß niemand auf der Welt. Davon unbekümmert tickt die radioaktive Verfallsuhr in Halbwertzeiten von zehntausenden Jahren.

Zitat “ Die Sanduhr ist aufgestellt”

Ich. schreibt Christian Unverzagt in dem Buch “Das Müll-System”

Zitat “Die Sanduhr ist aufgestellt, und wir alle befinden uns in der unteren Hälfte des Glases.” viii

Ich. Japan hat das Projekt der Moderne vom Westen übernommen. Doch die Geisteshaltung der grenzen­losen Unterwerfung der Natur im Dienste und zum Wohlgefallen des Menschen hat hier andere Wurzeln als im Westen. Im Weltverständnis Bashôs bewegt sich alles nach seiner inneren Natur. Shizen, das japani­sche Wort mit dem seit Mitte des 19. Jahrhunderts das westliche Konzept ‘Natur’ übersetzt wird, heißt wört­lich ‘das was aus sich selbst heraus ist’. Es drückt einen Seinsmodus der spontanen Selbstentwicklung aus, statt ein Objekt im Außen. ‘Alles’ schließt den Menschen mit ein. Nur im inneren Einklang mit dem Zen-Pfeil oder der Natur des Zwergbaumes wird er es zur Vollendung bringen. Als Bestandteil der Natur handelt der Mensch ‘wahr­haft’ nur im Einklang mit dem inhärenten Lauf der Dinge. Den klassischen Wegen – gleich ob der Weg des Schwertes, des Tees oder des Pinsels – eignete eine Demut, die selbst im strangulierten Bonsai nicht den Sieg des Subjekts über die Natur feiert. Doch der Formungswille des klas­sischen japanischen Ideals ist gemeinsam mit der expandierenden Reichweite der westlichen Wissen­schaft und Technik ins Maßlose explodiert.

Zitat “Vielleicht gibt es eine ‘besondere Beziehung der Japaner zur Natur’, die ich als ignoranter Außenseiter nicht sehen kann. Ich bin nicht qualifiziert, über die metaphysischen Aspekte dieser Beziehung zu sprechen. […] Doch als unverbesserlicher Philister denke ich manchmal, es handelt sich um die Art von ‘besonderer Beziehung’, die ein Bekannter zu einer jungen Dame unterhält, die er gelegentlich in Tokyos Rotlichtviertel aufsucht.” ix

Ich … schreibt der in Tokyo lebende britische Wissen­schaftsjournalist Peter Hadfield. Wollte man denn eine Verbindung legen zwischen Tradition und Gegenwart, so müßte man sagen, es sei dem Uran 235 ins Wesen geschrieben, spaltbar zu sein. Wenn man diese Gesetz­mäßigkeit erkennt, ihr gemäß handelt und nicht zuletzt die Energie­ver­sor­gungs-Möglichkei­ten versteht, die sich daraus ergeben, dann wird die Spaltung machbar gemacht. Keine beseelte Natur brüllt auf unter der Folter. Kein Berggott fährt dazwischen. Und heutzutage schätzen auch Literaten Klimaanlagen und fahren mit dem Hoch­ge­schwin­dig­keits­zug nach Tôhoku.

Japans Energieversorgung und damit die Grund­lage der elektrischen Industriekultur hängt fast vollständig von Importen ab. Das wird als immenses Sicher­heitsrisiko gesehen. 1941 erlebte das in rasen­dem Tempo industrialisierte Japan zum ersten Mal seine Verwundbarkeit durch blockierte Importe. Das von den USA angeführte Erdölembargo und die Blockade von Rohstoffquellen war unmittelbar mit­verantwortlich für Japans Kriegseintritt im Pazifik. Die Erfahrung wurde durch die Ölschocks der 70er Jahre wieder wach­gerufen. Aus dem doppelten Trauma der 40er und 70er Jahre erwächst der polit-psycholo­gische Traum von der energetischen Autarkie. Hinzu kommt die Chance, wissenschaftlich-technisch die Goldmedallie im inter­nationalen Wettlauf zu gewinnen und großes Geld an­zu­legen. Aus der potenten Mischung ergibt sich ein Atomprogramm von Weltrang. Mit allen notwendigen und hinreichenden und kaska­denartig redundanten Sicherheits-Systemen, versteht sich.

8. O-Ton Jap. Nakamura-san (2’54”)

Übersetz. “Mein Vater ist in Tomari geboren. Meine Eltern sind 1957 nach Rokkasho gezogen. Vater hat hier mit Rinderzucht angefangen. Er war vorher in der Man­churei, hat dort Hufschmied gelernt. Danach hat er als Fischer gearbeitet und ist in der Shimokita-Gegend herumgezogen und hat Pferde beschlagen. Dann wollte er Milchbauer werden oder Rinder züchten. Bevor er hierher gekommen ist, hat er in Hokkaido eine Ausbil­dung dafür gemacht. Die Regie­rung hat damals die Ansiedlung in Aomori gefördert. Vor dem Krieg hat das Land in dieser Gegend hier dem Kaiser gehört. Nach dem 2. Weltkrieg kaufte der Staat es mit Geld von der Weltbank. Die Regierung hat die Gegend erschlossen, Leute ein­geladen, sich hier niederzulassen, und ihnen Kredite mit 20 bis 40 Jahren Laufzeit gegeben für Häuser und Ma­schinen.”

Ich. Tessei Nakamura hat zusammen mit seinem Vater vor 38 Jahren hier angefangen und ist jetzt gerade schul­denfrei. Bis vor 6 Jahren waren sie Milchbauern. 1980 wurde die Milchproduktion von der Regierung begrenzt und sie stellten um auf Kälberzucht. Heute haben sie 25 Kühe und vier Zuchtbullen. Die Kälber werden nach einem halben Jahr an Mast-Bauern verkauft. In seinem Wohnzimmer erzählt er uns, daß man früher mit wenigen Tieren bequem seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Aber heute müsse man das eigent­liche wie in Amerika und Australien im großen Stil mit hunderten von Kühen betreiben. Mit der Öffnung des japanischen Agrarmarktes wird seine Existenz als Bauer fraglich.

Nakamura ist Mitte 40. Er ist der einzige Bauer innerhalb des Industrie-Entwicklungsgebietes von Rokkasho in der Präfektur Aomori, der sein Land bis heute nicht an die Großindustrie verkauft hat.

2. Musik 0’50” Works by Nishimura [FOCD3133] 5. Fugaku. (Pause zw. Perkussion und Flöte um 05″ kürzen.)

Der alte Name ‘Rokkasho’ bedeutet ‘6 Dörfer-Gegend’. Der heutige Regierungsbezirk beherbergt 11.400 Menschen auf 253 qkm. Er ist flach, durchzogen von Küstenmarschen und Seen. Hauptprodukte sind Fisch, Rindfleisch, Milch, Wurzelgemüse, Äpfel, Holz. Das Wetter schlägt hier oben erstaunlich schnell um, von Sonnenschein über Regen zu Schnee und 20 Minuten später schon wieder Sonne. Rokkasho hat viele Regen­bogen, freundliche Menschen und herrliche Küsten­straßen zum Motoradfahren, aber wirtschaftlich ist es wie zu Bashôs Zeiten tiefstes Hinterland. Bis vor einigen Jahren.

9. O-Ton Jap. Isao Hashimoto (0’35”)

Übersetz. “Erstens die Förderung der industriellen Entwicklung, und damit die Verbesserung des Einkommens. Zwei­tens die Bildung. Und drittens die öffentlichen Einrich­tungen, die Lebensumgebung.”

Ich. … erläutert uns der stellvertretende Bügermeister von Rokkasho, Isao Hashimoto, seine Prioritätenliste. Zur Audienz in seinem Büro serviert er uns Vorzugsmilch aus der Region. Angesprochen auf die Baseball-Tro­phäe auf einer Vitrine erklärt uns der 53-Jährige, er sei auch als Sport-Berater für die Jugend aktiv.

10. O-Ton Jap. Hashimoto (1’56”)

Übersetz. “In den 60er und 70er Jahren war unter den 47 Präfekturen im ganzen Land Aomori die ärmste. Heute liegt sie bereits vor Okinawa und Kagoshima. In der Präfektur Aomori war wiederum Rokkasho die ärmste Region. Man kann also zurecht sagen, die ärmste Region im Land. Die Verkehrsbedingun­gen waren schlecht. Da gab es nichts. Es gab nur wenige, die auf’s Gymnasium gingen, nur 18%. Die nächste Schule war in der Stadt Aomori, aber es gab kaum Busse. Wer in Aomori zur Schule ging, mußte dort wohnen. So eine unpraktische Gegend war das.”

Ich. Und dann änderte sich im fernen Tokyo die Politik. 1971 kamen aus der Machtzentrale des Landes neue Pläne für die Regionen. Die Nahrungsmittel­ver­sorgung war gesichert, nicht zuletzt durch wachsende Importe. Japan war auf dem Weg in die Spitzenriege der Industriemächte. Jetzt sollte in Rokkasho ein petroche­misches Kombinat errichtet werden. Eine gewaltige Anlage, bei der die Investitionen für Infrastrukturer­schließung kaum ins Gewicht fielen. Es hat sicher auch bereits eine Rolle gespielt, daß in dichterbesiedel­ten Gebieten Großindustrie-Anlagen auf Widerstand gestoßen wären. Zwei Jahre zuvor hatten nach langem Kampf die Bewohner der Hafenstadt Minamata eine staatliche Anerkennung ihrer 13 Jahre zurückliegen­den Quecksilber-Vergiftung durch eine Düngemittel-Fabrik errungen. Der lokalen Bevölkerung in Rok­kasho verhieß die Entwicklung Fabrik- und Büroarbeit, vermeintlich leichter als Landwirtschaft und Fischerei, vor allem aber den Anschluß an das urbane Japan.

11. O-Ton Jap. Nakamura (0’15”)

Übersetz. “Ende der 60er haben alle gedacht, entweder aufhören mit der Viehzucht und verkaufen oder Geld aufneh­men und größer machen. Das war vor der Mutsu-Ogawara -Industrieentwicklung. Dann kamen die Entwicklungs-Pläne auf. Da gab es schon keine Leute mehr, die aufhören wollten. Die Industrie zahlte immer höhere Preise für das Ackerland. Alle dachten, jetzt geht’s los, und es ist besser, schnell an die Entwick­lungs­firma zu verkaufen.”

Ich. Das Geld für ihre Felder haben viele für große Häuser ausgegeben. Bald würde es ja Arbeit auf der Baustelle und in der Fabrik geben. Und dann kam 1973 die erste Ölkrise. Die Pläne für das Chemie-Kombinat endeten in der Schublade. Große Flächen waren bereits gerodet, Straßen gebaut, dann versiegte der Geldzufluß. Die ehemaligen Bauern mußten in den Städten Arbeit suchen. Das Geld reichte nicht aus, um die neuen Häuser instand zu halten.

Ausgelöst durch die Ölschocks erfolgte wiederum ein Kursschwenk der Regierung. Eine forcierte Atom­politik versprach Unabhängigkeit in der Energie­versor­gung. Außerdem wurde die wachsende Kritik an Treibhausgasen aus fossilen Energiequellen als Argu­ment für die Umweltfreundlichkeit von AKWs auf­genommen. Auf Umweltmessen beispielsweise führen Elektri­zitäts­unternehmen AKWs, da sie kein Kohlen­dioxid absondern, zusammen mit Solarautos als grüne Tech­nologie vor. x

Heute laufen in Japan 42 AKWs, doppelt so viele wie in Deutschland, und etwa noch einmal so viele sind langfristig geplant. Etwa ein Drittel der Elektrizi­tät ist heute Atomstrom, im Jahre 2010 soll es fast die Hälfte sein. Doch auch der Atombrenn­stoff muß importiert werden. Und die abgebrannten Brenn­stäbe schickt Japan, genauso wie Deutsch­land und andere Länder nach Sellafield in England und nach LaHague in Frankreich. Dort aber bildete sich in den 80er Jahren ein Verarbeitungsstau. Die Kapazitäten für vorübergehende Lagerung bei den jeweiligen AKWs gingen ebenfalls zur Neige. Um Uran und Plutonium zu einer, wie es heißt, “quasi-domestischen” Energie­quelle zu mach­en, brauchte Japan eine eigene An­reicherung, Aufar­beitung und Endlagerung. Ein Großkomplex, bei dem Ärger mit der Bevölkerung vorauszusehen war. Doch praktischerweise gab es in Rokkasho ein schon halb-erschlossenes Industriegebiet. Der Bau des Atomkreislaufs begann 1988.

2. Atmo Space-Sound am Eingang zum PR-Center

Tape 1, Seite A, (897) bis max. incl. Tonbandstimme

Ich. Es sind immer zuerst die Public Relation-Zentren die errichtet oder aufgepeppt werden, bevor eine kontro­verse Anlage in eine neue Baustufe übergeht. Das Besucher-Zentrum in Rokkasho ist der Monumentalität der Kreislauf-Anlage und dem Widerstand dagegen angemessen. Der Star-Architekt Kishô Kurokawa bekam freie Hand und ein Budget von 40 Mio. Mark. Realisiert hat er eine schräg eingeschnittene gelbe Tonne im Zentrum von zwei ineinandergreifenden Ringen. Das ganze soll, wer hätte es gedacht, den Kreislauf-Charakter der Anlage ausdrücken. Eine harmonische Einpassung des Bauwerks in die Um­gebung gehörte offensichtlich nicht zu den Vorgaben.

3. Atmo. PR-Center, Ball-Circus, ab excl. “unglaublich, was die sich da alles einfallen lassen.” Unterlegen bis 4. Atmo.

Tape 1, Seite B, (0)

Der Betreiberkonzern names “Stromreaktor und Nuklearbrennstoff-Entwicklungsgesellschaft”, kurz PNC, ist ein Konglomerat aus den neun Energie­ver­sor­gungsunternehmen Japans und den Konzernen, die AKW-Technologie liefern.

Als wir ankommen, stehen vor dem Gebäude brüderlich nebeneinander eine deutsche und eine japanische Fahne. Da wir mit hochrangiger Empfeh­lung hier sind, ist unser Besuch Chefsache. Einen halben Tag lang führt uns Toshio Taguchi herum, der Generaldirektor der Anlage. Außerdem ein ganzer Stab von Ingenieuren und eine Schar gelb uniformierter Präsentationsdamen.

Die hübscheste führt uns durch’s Programm. Aufwendige maßstabsgetreue Modelle und Simulation­en sollen erfahrbar machen, was bei der Uranan­reicherung und der Wiederaufarbeitung geschieht. Dazu das ganze Arsenal an interaktiven Video- und Com­puter-Displays, Trickspiegeln, die Figuren im Raum schweben lassen, ein Kinosaal, Hoch­glanz­bro­schüren – alles auf einem für Kinder verständ­lichen Niveau.

Atmo ab incl. “ma ano, shôrai des…”. Unterlegen bis “… 50 cm Beton ummantelt.”

Bei der Rundfahrt über das 740 Hektar große Gelände bekommen wir die gewaltige Baustelle der Wieder­auf­arbeitungsanlage gezeigt. Die Grundsteinlegung dafür hat offiziell am 1. April stattgefunden, doch das, was wir wenige Tage danach gezeigt bekommen, sieht schon weit fortgeschrittener aus. Wenn sie 1999 in Betrieb geht, wird sie die drittgrößte WAA der Welt sein.

Das Endlager für schwach-radioaktiven Müll wurde im Dezember 1992 in Betrieb genommen. Je 320 Stahlfässer mit radioaktiven Overalls, Filtern, verfestigtem Kühlwasser usw. kommen in einen Betonkübel, der dann mit Beton ausgegossen und mit Erde abgedeckt wird. Wir fragen, was man machen werde, wenn Wasser in den porösen Beton dringt und radioaktive Stoffe aus lecken Fässern auswäscht. Der Untergrund sei genau untersucht worden, das Grund­wasser wird mit Meßstellen kontrolliert. Sollte jedoch ein Leck auftreten, erklärt uns einer der Ingenieure, gibt es keine Möglichkeit, die Fässer wieder heraus­zuholen. Dann werde die 250 cm dicke Betonschicht noch einmal mit 50 cm Beton ummantelt.

Das ganze Gelände ist umgeben von demons­trations­sicheren Betonzäunen mit Bewegungssensoren und Ausfalltoren, die bei den Auseinadersetzungen um den Tokyoter Flughafen Narita entwickelt wurden – Japans Startbahn West.

Den Widerstand haben sich Staat und Industrie auch in anderer Form etwas kosten lassen. 400 Mio Mark sollen über 10 Jahre hinweg als Kompensation gezahlt werden, ein Viertel davon für die Förderung von Fischerei und Landwirtschaft. Für die Kommune und für den Vize-Bürgermeister hat sich der Handel gelohnt. Mit dem Atomkreislauf allein hat Rokkasho fast das landesweite Niveau der Industrialisierung erreicht. Das durchschnittliche Jahreseinkommen hat sich seit den 70er Jahren versiebenfacht und liegt dennoch erst bei 66% des Landesdurchschnitts. Stra­ßen, Schulen, Sporteinrichtungen sind mit Atomgeldern errichtet worden.

3. Musik Rolling Dragons [Cassette], 1. Stück, 2. Seite: Oo-Chernobyli-jo. 20″ stehen lassen, dann unterlegen.

Ich. Widerstand? Vize-Bürgermeister Hashimoto sagt, 90% der Ortsansässigen seien für die Atomanlage. Das sieht naturgemäß von der anderen Seite anders aus.

16. O-Ton Jap. Nakamura (1’20”)

Übers. “Der Widerstand ist gespalten, besonders seit der letzten Bürgermeisterwahl. Der größte Teil der Leute ist dagegen. Aber nach den vielen Jahren denken viele, es ist besser, den Mund nicht aufzu­machen. In meinem Fall, wissen alle – die Einheimi­schen und die Städter – wo ich stehe.”

Musik hochziehen bei Einsetzen des Gesangs. Unterliegen lassen bis 17. O-Ton

Ich. Welche Zukunft hat diese Dritte-Welt-Region im Innern der Industriemacht Japan? Jemand aus der Anti-AKW-Bewegung drückte es so aus: ‘Etwas anderes als Dreckindustrie kommt hier sowieso nicht mehr her.’ Wie sehen der Bauer und der Kommunal­politiker das Rokkasho des Jahres 2000? Vize-Bürgermeister Hashimoto ist selbst­sicher:

17. O-Ton Jap. Hashimoto (1’25”)

Übers. “Neue Industrien aus dem Land und der Präfektur kommen rein. Wir überlegen uns, wie wir für unsere Region bis ins 21. Jahrhundert mit Stadtverschöner­ung, Freizeiteinrichtungen, Sport und Bildung eine lebenswerte Umgebung schaffen können und eine neue Landwirtschaft – z.B. Heidelbeeren und Camembert. Ich glaube, daß Rokkasho-mura vielleicht die beste Region mindestens in Aomori-ken wird. Der Bürger­meister hat die Vision von ‘Der Stadt des Einklangs von Natur und Wissen­schaft’. Meine Zukunftsvision ist es, die Vitalität der Region zu zeigen. Eine Stadt von Gesundheit und Kultur. Das ist eine ziemlich gute Idee. Eine Stadt, von der junge Leute sagen, laß uns da hin gehen. Die Entwicklung ist mein Leben.”

Ich. Gerhard fragt, ob Hashimoto Kinder hat:

18. O-Ton Jap. Hashimoto (0’49”)

Übers. “3 Jungs, 3 Enkel. 2 leben in Rokkasho, der Große in Aomori, die Enkel auch in Aomori. Alle drei arbeiten für die Atomkreislauf-Firma. Einer im Hauptsitz in Aomori. Im Hafen der zweite. Es wäre doch schade drum, wenn die Kinder aus Rokkasho weg­gehen würden.”

Ich. Die Aussichten des Anti-AKW-Bauern und seiner Kinder sind nicht so günstig. Der Ruf der Landwirt­schaftsprodukte aus Rokkasho ist nach Anlaufen des Atomparks bereits gesunken. Selbst die bislang solida­rischen Genossen von den Lebensmittel-Kooperativen in den Städten werden beim geringsten Verdacht die Milch und die Karotten nicht mehr abnehmen. Ist erst die WAA in Betrieb, können die Bauern nur auf günstige Grenzwerte und anonymen Verkauf ihrer Produkte im Supermarkt hoffen.

19. O-Ton Jap. Nakamura (0’54”)

Übers. “Weiter hier leben? Viele Leute sind umgekippt und stimmen der Atomanlage jetzt zu. Viele Freunde sagen, es ist am besten, so schnell wie möglich weg­zuziehen. Aber das mach ich nicht. Jedes Mal, wenn ich mit diesen Freunden rede, geht’s darum, wie lange sie noch hier sind. Das finde ich nicht gut. Rokkasho soll nicht auseinanderfallen.”

5. Atmo. Düsenlärm (vielleicht besser aus dem Archiv). Loch in der Aufnahme rausnehmen. Unterlegen bis “… so schlimm ist das.”

Ich. Nach der offiziellen Führung führt uns unser Reisege­fährte Takahashi in die Rückseite der Rückseite ein. In die Gefahren, denen die gefährliche Anlage – und damit wir – ausgesetzt sind. In die Takahoka-Falte, an der sich in der Tiefe zwei Platten aneinader reiben. In den hohen Grundwasserspiegel, der den Boden auf­weicht und Straßen und Öltanks einsinken läßt. Und in die Gefahr im Himmel über Rokkasho. In nur 5 km Entfernung vom Atomkreis auf dem Militärgelände Amagamori üben Jagdflieger das Bombenwerfen. F-16 der amerikanischen Luftwaffe und japanische F-1 donnern im Minuten­abstand über uns hinweg. 10 schwere Unfälle gab es in den letzten 5 Jahren, u.a. F-16-Abstürze und Übungsbomben die versehentlich über bewohntem Gebiet niedergingen.

Doch Takahashis Hauptkritikpunkt ist nicht technischer Natur. Vor allem beklagt er, wie die regionale Gemeinschaft zerstört und zwischen­mensch­liche Beziehungen kaputt gemacht werden. In den Fischerdörfern sind alte Solidarstrukturen noch intakt. Wenn ein Taifun kommt, werden gemeinsam zuerst die nächstgelegenen Booten an Land gebracht. Aber jetzt helfen B­efür­worter und Gegner einander nicht mehr. Selbst durch die Familien zieht sich die Spal­tung. Den Hochzeiten oder Beerdigungen des gegne­rischen Lagers bleibt man fern. Der Druck auf die Minderheit wächst. ‘Die Anlage ist ja doch nicht mehr aufzuhalten, also stell dich nicht so an.’ So schlimm ist das.

Wir lassen den Atompark hinter uns und fahren über schnurgerade, menschenleere Straßen durch eine Landschaft, die schon heute wie Tarkovskies Zone aussieht, obwohl der Betrieb gerade erst begonnen hat. Geisterstädte, Häuser, von denen nur noch die Grund­mauern stehen, eine Bus­halte­stelle, an der kein Bus mehr hält. Bärengras hat gerodete Flächen zurücker­obert. Darüber donnern die Düsenjäger. Mitten im Nichts Reklametafeln von Tôshiba, Hitachi und Sumitomo: “Für die Harmonie von Mensch, Natur und Technik”.

6. Atmo Zugrattern. Unterlegen bis “… Generalplan”

Ich. Zurück nach Tokyo ins Zentrum der Entscheidungs­gewalt, wo die wichtigsten Zyklen die der Haushalts­pläne sind. Jeden März, mit einer Regelmäßigkeit, wie die so hochgeschätzte Kirschblüte oder die Herbstlaub­färbung, häufen sich auf den Straßen die Baustellen. Anders als jene ist das Phänomen unabhängig von der wechselhaften Natur. Es wird vom Ende des Fiskal­jahres am 1. April bestimmt und von der Not­wen­dig­keit, den alten Etat auszugeben. Neben solchen jährlichen Zyklen gibt es Fünf- und Zehnjahrespläne und wie im Falle der Atomenergie einen 70 Jahre umfassenden Generalplan.

Kreisläufe. Die von Menschengenerationen und die von Bäumen werden durchbrochen. Neue werden gesetzt. Ein geradezu magischer Kreis ist der des Plutoniums, das im schnellen Brüter mehr wird, während es verbrennt.

20. O-Ton Matsuno (0’34”)

“Und dieser langfristige Kreislauf, und dann kommt das Plutonium wieder. Diese Kreislaufszeit, ich glaube, eine Einheit Plutonium wird, glaube ich, in 15 Jahren doppelt, hängt ab vom System, aber ungefähr so eine Größenordnung.”

Ich. Dr. Yoshiaki Matsuno ist Atomphysiker und hat mehr als 18 Jahre lang an der Entwicklung des japanischen Schnellbrüters Monju mitgearbeitet. Sein fließendes Deutsch hat er beim Studium und bei häufigen For­schungsaufenthalten in Österreich und Deutschland erworben. Gearbeitet hat Dr. Matsuno unter anderem bei der Österreichischen Studiengesellschaft für Atom­energie, im Kernforschungszentrum von Toshiba, im staatlichen Japanischen Atomenergie-Forschungsins­titut und für die PNC, die Betreiberfirma des Atom­kreislaufs. Heute ist er leitender Direktor der JISTEC, einer staatlichen Einrichtung zur Förderung des internationalen wissenschaftlich-technischen Aus­tauschs.

Monju in der Präfektur Fukui ist nach dem experimentellen Joyo der zweite japanischen Brüter, ein Prototyp. Er wurde 1991 fertiggestellt und soll im April 1994 kritisch werden – aufgrund von tech­nischen Problemen mit dem Kühlsystem und dem Brennstoff über ein Jahr später als geplant. Die anderthalb Tonnen Plutonium, die die Akatsuki Maru Ende vergangenen Jahres unter weltweiten Protesten aus Frankreich holte, werden als zweite Ladung für Monju dienen.

21. O-Ton Matsuno (1’45”)

“Warum will man Plutonium vermehren in Japan? Das ist sehr langfristiges Problem. Z.B. wir müssen impor­tieren ca. 98 % der Energiequellen aus dem Ausland, Persien oder so, und Uran auch. Uran haben wir auch überhaupt nicht. Wenn man natürlich die Kernkraft­werke annimmt, dann um auf diesem Gebiet unab­hängig zu sein, braucht man unbedingt einen Kern­brennstoffkreislauf. Das ist auch ganz natürliche Philosophie, finde ich, also policy. Das ist sehr spe­zielle Philosophie Japans, wegen der 100-prozentigen Ermangelung von Naturquellen, natural resources. Das ist vielleicht ein Schicksal Japans, finde ich.”

Ich. Speziell ist die Philosophie Japans, da es als einziges Land der Welt zusammen mit Russland an der Brüter­tech­nologie festhält. Die USA haben sie nach einer Kernschmelze im Reaktor Enrico Fermi-1 1966 und einem weiteren abgebrochenen Anlauf aufgegeben. Frankreichs Superphenix wurde 1990 nach ständigen technischen Pannen abgestellt. Das deutsche Projekt in Kalkar wurde 1991 zur Inves­ti­tions­ruine erklärt, ohne je kritisch geworden zu sein. Auch ein europäisches Gemeinschaftsprojekt ist im vergangenen Jahr ge­platzt. Dem letzten noch laufenden Prototyp-Brüter im schottischen Dounreay wird nächstes Jahr der Geld­hahn abgedreht. Die großen Hoffnungen aus den 50er Jahren haben sich nicht realisiert.

Auch Japan macht sich offenbar Sorgen. Noch bevor Monju angelaufen ist, hat im März die Atome­nergie-Kommission einen groß­an­ge­legten Sicherheits­test beschlossen. Die folgende Generation eines De­monstrations-Brüters ist bis ins 21. Jahrhundert verschoben.

Nach Dr. Matsunos Vorstellung sollte der Demon­stra­tions­reaktor weiterentwickelt werden bis zur kommer­ziellen Anwendungsreife. Dann soll die Tech­nologie wieder auf Eis gelegt werden, bis die Be­dingungen danach fragen.

Damit jedoch beißt sich die Kreislauf-Katze in den Schwanz. Die Wiederaufarbeitungs-Anlage in Rokkasho macht nur Sinn vor dem Hintergrund der Plutonium-Wirtschaft. Das Recycling von Brennstoff aus konven­tionellen AKWs wird heute allgemein, und auch in Japan, als wirtschaftlich und technisch unsinnig angesehen. Nach einmaliger Wiederverwendung ist das Uran derart mit unge­wünschten Spaltprodukten verunreinigt, daß es nicht mehr zu gebrauchen ist. Außerdem wird das radioaktive Müll-Volumen dabei nicht kleiner, sondern erheblich größer. Der Aufwand spricht für einen ex-und-hopp-Gebrauch.

Der Zweck der WAA in Rokkasho ist also in erster Linie die Gewinnung von Plutonium. Fünf Tonnen pro Jahren sollen für Brüter und MOX verwendet werden, Mischoxyd aus Plutonium und Uran. Doch was, wenn die Brüter auf Eis liegen und MOX, wie eine OECD-Studie kürzlich feststellte, wirtschaftlich wohl nie mit frisch angereichertem Natururan konkurrieren kann? Auf Eis oder genauer: unter Wasser liegen bis zur Klärung dieser Frage auch die 80 bis 90 Tonnen Plutonium, die Japan in den nächsten Jahren anhäu­fen will.

22. O-Ton Engl. Jinzaburo Takagi (1’06”)

Übers. “Die dringenste Frage ist, was mit dem Plutonium geschehen soll. Zum einen wird viel Plutonium von ausgemusterten Atomwaffen kommen. Auch zivile Atomprogramme wie in Japan werden große Mengen an Überschuß-Plutonium produzieren. Plutonium ist eines der toxischsten Materialien auf der Welt. Außer­dem kann man es für Atomwaffen verwenden. Deshalb ist dieser Überschuß an Plutonium, ob militärisch oder zivil, sehr gefährlich für zukünftige Generationen.”

Ich. Als Atom-Chemiker ist Dr. Jinzaburo Takagi Kollege von Dr. Matsuno, doch politisch sitzt er auf der anderen Seite des Tisches. Nach Abschluß der renom­mierten Tokyo Universität arbeitete er – wie Dr. Matsuno – in Tôshibas Atom­for­schungs­zentrum. Über einen Konflikt um unsichere Brennstäbe kündigte er und ging zurück zur Tokyo Universität. In den späten 60ern stellte er fest, daß die Umwelt bereits stark radioaktiv verseucht war. Über weitere Konflikte mit der etablier­ten Wissenschaft gründete er 1975 das Bürgerinforma­tions-Zentrums für Atom­ener­gie. Heute ist er 53 Jahre alt und der schärfste Dorn im Auge der Atomindustrie.

23. O-Ton Engl. Takagi (0’33”)

Übers. “Besorgte Wissenschaftler aus der ganzen Welt treffen sich ein oder zwei Mal im Jahr, um darüber zu diskutieren, wie man Plutonium entsorgen könnte. Die meisten von uns sind nicht dafür, Plutonium in irgendeiner Form zu benutzen. Daher müssen wir Plutonium als Giftmüll behandeln.”

Ich. Eine Umdefinition von Müll in Wertstoff haben wir im Zuge der Recycling-Bewegung schon häufiger erlebt. Doch mit dem weltweiten Ende des Atombomben­wett­laufs und der Plutoniumwirtschaft wird umgekehrt der ehemalige Wertstoff Plutonium zu hochbrisantem Müll. Russland, verzweifelt auf der Suche nach allem was Devisen bringt, bietet sein Plutonium zum Verkauf an. Japan begibt sich strategisch auf die andere Seite der Definition und erklärt sich bereit, Russland quasi als Freundschaftsdienst kostenlos davon zu ‘ent-sorgen’.

Doch selbst wenn Japan an der Plutonium­wirt­schaft festhält, steht es vor dem Problem von hochra­dioaktivem Müll, der sich mit der Wiederauf­ar­bei­tung nur noch schneller türmen wird. Ein Zwischenlager soll in Rokkasho bis 1994 entstehen. Hier soll der hoch-radioaktive Müll aus LaHague und Sellafield zunächst 50 Jahre ‘abkühlen’. Bis dann, hofft man, ist eine endgül­tige Lösung dafür gefunden. Treffend hat man die Atomenergie mit einem Flugzeug verglichen, das gestartet ist, ohne eine Landebahn zu haben.

24. O-Ton Matsuno (0’31”)

“Ganz ernst gesagt, auch in Japan die high-level waste problem ist noch nicht aufgelöst, general ge­sprochen. Natürlich im allgemeinen in der Welt es gibt kein Land, das dieses Problem schon aufgelöst hat, kein Land.”

Ich. In Japan überlegt man, den Atommüll mit Neutronen oder Gammastrahlen zu beschießen und so den Ver­fallsprozeß von zehntausenden Jahren zu beschleuni­gen. Doch das ist bislang noch Theorie. Außerdem würden dabei, wie bei der Verbrennung von Pluto­nium in Nicht-Brut­re­ak­toren neue Nukleide entstehen, die wieder längere Halbwertzeiten haben. Nach anderen, abenteuerlicheren Vorschlägen soll der Müll in Tor­pedos in den Meeresboden oder mit Raumschiffen in die Sonne geschossen werden. Die weltweit favorisierte Methode ist die Endlagerung in geologisch stabilen Schichten einige hundert Meter unter der Erde.

26. O-Ton Matsuno (0’48”)

“Vitrifikation und sehr tief in Boden, in geolo­gische Lagerung, ganz tief ungefähr 1000 m oder mehr in sehr stabilen Felsen, das ist eine Möglichkeit. Das braucht man, überlegen, ungefähr 1000 Jahre oder mehr bis die Radioaktivität der Abfälle Naturradio­aktivität wird.”

Ich. Wenn es nach der Anti-AKW-Bewegung ginge, dürfte es das Atom-Müll-Problem gar nicht erst geben. Doch da das Zeug nun einmal existiert, ist ihre Antwort ebenfalls unterirdische Lagerung. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied.

27. O-Ton Engl. Takagi (0’56”)

Übers. “Wir überlegen, das Plutonium mit hochradioaktivem Müll zu vermischen. Das macht es weniger leicht zugänglich. Diese Mischung sollte vitrifiziert und in tiefen geologischen Schichten überwacht gelagert werden, nicht weggeworfen. Ich denke nicht, daß es gut ist, diesen Müll bei uns zu haben, aber es gibt keine andere Alternative.”

Ich. In der hoffnungsvollen Annahme, daß die Wissenschaft jedes unlösbar scheinende Problem irgendwann einmal lösen wird, wenn es nur bedrohlich genug ist, er­scheint eine rückholbare, unterirdische Lagerung als verantwortlichste aller schlechten Lösungen. Bleibt auch dann die Frage: Wo?

28. O-Ton Matsuno (1’38”)

“So eine Mögl. haben wir schon, aber die Auswahl von site, Lagerstätte ist natürlich sehr sehr schwer, weil die Leute, die in der Nähe wohnen selbstverständlich dagegen sind. Bitte nicht so nahe zu uns, usw. Des­wegen es ist so schwer so eine Lagerstätte zu finden. Mindestens in Japan, weil Japan ist so ein kleines Land und die Wohnungsorte ist ungef. 30% von ganz Japan. Aber trotzdem, die Stätte zu finden ist wahn­sin­nig schwer jetzt. Test an sich, nur Test kann man auch nicht so leicht machen. Wenn man Test macht, dann wenn es gut geht, dann vielleicht man denkt, oh das ist ein guter Platz, so sagt man sicher. Deswegen die Leute, die dort in der Nähe wohnen, wollen nicht testen lassen. So wie Gorleben. Sehr ähnliche Situ­ation.”

Ich. Doch nicht nur die Bevölkerung, auch die Natur auf der vulkanischen Inselgruppe Japan macht es den Endlagerern schwer. Erbeben und Wassereinbrüche in alten Bergwerken verbieten eine Lösung wie im Schacht Konrad in Deutschland. Auch Salzstöcke wie in Gorleben gibt es keine. Nach Auskunft eines Wis­sen­schaftlers des Unternehmens Hazama Gumi, des größten Generalunternehmers für Atomanlage, wer­den in Japan zwei geologische Formation als ge­eignet angesehen: Ton und kristalliner Granit. Das Ver­fah­ren, wie er es mir erläuterte, besteht darin, in Stollen Löcher zu graben. Dorthinein kommt je ein Faß, das mit kompaktem Ton umgeben wird. Schließ­lich wird der ganze Stollen mit Ton aufgefüllt. Nein, die Fässer seien nicht rückholbar, aber das Grundwasser werde überwacht.

29. O-Ton Engl. Takagi (1’03”)

Übers. “Es gibt Bestrebunge der Atomindustrie, das Endlager für hoch-radioaktiven Müll in der Chugoku-Region im Westen von Japans Hauptinsel zu errichten, in Hiroshima oder Okayama. Die Bergregion in dieser Gegend ist relativ stabil, aber wird sind der Ansicht, nicht stabil genug. Doch die Regierung führt dort geheime Voruntersuchungen durch. Daher ist das ein Kandidat.”

Ich. In der Nähe von Hiroshima? Das ist ein böser Trep­penwitz der Geschichte?

30. O-Ton Engl. Takagi (1’03”)

Übers. “Ja, das ist eine sehr ironische Geschichte. Dennoch machen sie das. Außerdem gab es einmal das Gerücht, daß sie in Kyûshû in der Nähe von Nagasaki nach einer Endlagerstätte suchen. Aber die Anti-Atom­bewegung in Hiroshima und Okayama ist sehr stark. Deshalb glaube ich, die Regierung hat keine großen Chancen, dort ein Endlager zu errichten.”

Ich. Das Erbe von Hiroshima und Nagasaki wird tagtäglich in die Erinnerung von Schulkindern eingeschrieben, die durch den Friedenspark in Hiroshima geführt werden. Tausende Hibakusha, Atombombenopfer, leiden noch heute unter den Spätfolgen. Inzwischen in der dritten Generation. Allerdings auch darunter, wie wenig Unterstützung und Anerkennung sie von den Politi­kern erfahren. Regierung und Industrie haben stets darauf geachtet, daß keine Assoziation aufkommt zwischen der militärischen und der zivilen Nutzung der Atom­kraft. Auch Dr. Matsuno legt Wert darauf, nicht von Atom-, sondern von Kernkraftwerken zu sprechen.

31. O-Ton Matsuno (0’33”)

“Man kann nicht sehr gut untersuchen, jetzt momentan noch nicht, weil die Leute soo dagegen sind. Des­wegen, wenn man natürlich dieses Problem nicht auflösen könnte, dann die Atomwirtschaft muß man aufhören, das ist die wichtigste Sache finde ich.”

Ich. Wann ist der Zeitpunkt gekommen, mit der Atom­wirt­schaft aufzuhören?

32. O-Ton Matsuno (0’51”)

“Ja wissen Sie, das ist ziemlich schwer zu beant­worten. Das kommt darauf an, wenn sie Volumen sehr, sehr kleiner machen könnten, dann vielleicht die erlaubte Länge ist größer. Aber wenn die Maß oder Volumen so groß bleibt, dann die Zeit kommt schon näher. Aber ich finde, durchschnittlich, 10 oder 20 Jahre geht’s schon. Das ist mein Gefühl. 20 Jahre mindestens.”

Ich. Für das Gefühl, daß schon viel früher gar nichts mehr geht, gibt es eine Reihe Gründe. Zum Beispiel kommt die Atomphysik schlicht aus der Mode. Bewerbungen von Uniabgängern sind ein guter Geigerzähler für die erwarteten Zukunftsaussichten einer Branche. Unter dem Titel “Probleme der Atomindustrie bei der Re­krutierung von Langzeit-Angestellten” gab die Indus­trievereiniung der Atomwirtschaft vor zwei Jahren einen Bericht heraus. Darin ist bereits von ernstem Personalmangel die Rede.

Das beginnt bei der Studienwahl. Dr. Matsuno berichtet von Kursen in Atomphysik, die fast nur von chinesischen und indischen Gaststudenten besucht werden. Fächer wie Genetik, Life-Science, und Mate­rialwissenschaften sind heute viel angesagter.

Der Bericht der Atomindustrie schlägt als Lösung vor, Schulen und Universitäten anzusprechen und neue Arbeiter­schichten zu verwenden, wie Frauen, Auslän­der und ältere Menschen. Schon heute werden Reini­gungsarbeiten in AKWs unter anderem von Tagelöh­nern ausgeführt, die als Genpatsu jipshii – ‘AKW-Zigeuner’ durchs Land ziehen. Schließlich wird die Regierung aufgefordert eine langfristige Vision für die Atomindustrie zu formulieren. xi

Ein weiterer Grund, warum Arbeitsplätze in der Atomindustrie immer unattraktiver werden ist, daß sie ungesund sind. Wie erst im Mai dieses Jahres bekannt wurde, hatte das Arbeitsministerium 1991 anerkannt, daß der Tod eines AKW-Arbeiters drei Jahre zuvor durch Verstrahlung am Arbeitsplatz verursacht worden war. Der Mann war im Alter von 31 Jahren an Leukämie gestorben. Nach dem Atom­reaktor-Sicher­heitsgesetz war die erlaubte jährliche Strahlendosis nicht überschritten worden. Aber das Arbeitsminis­terium bemühte andere Experten. Ihnen zufolge war die kumulative radioaktive Belastung, der er aus­gesetzt war, ursächlich für seinen Krebstot. xii Die Entscheidung eröffnet anderen Betroffenen die Mög­lichkeit von Entschädigung und gesellschaftlicher Anerkennung. Und, er liefert eine weitere Lektion für eine Politik der Grenzwerte.

4. Musik Toki [KICC2015], 4. Akira Nishimura: Hetero­phony of 2 Pianos and Orchestra 13″ stehen lassen, dann unter­legen bis 38.O-Ton

Selbst wenn es die Wissenschaftler und Arbeiter gäbe – eine “langfristige Vision für die Atomwirtschaft” ist immer schwerer zu rechtfertigen. Erwartungen aus der Vergangenheit haben sich nicht realisiert. Die Voraus­setzungen haben sich geändert. Der Ölpreis ist gesun­ken. Auch der Preis für Uran hat sich durch neue Vorkommen in den letzten 15 Jahren nicht wie erwar­tet verdoppelt, sondern ist auf ein Sechstel gefallen. Der Preis, vor allem der politische, für die Wiederauf­arbeitung hingegen steigt. Nach dem di­plomatischen Fiasko um die Akatsuki Maru hat das Ministerium für Wissenschaft und Technologie an­gekündigt, aufgrund der internationalen Kritik solle die Plutonium-Planung auf ein “realistisches Niveau”, wie es hieß, zurückge­schraubt werden. xiii

Doch aufgeben will Japan das Programm nicht. Das käme dem Eingeständnis einer Fehlentscheidung gleich, und das hieße, Gesichter gingen verloren. Wenngleich Japan auch keine ökologische Ethik besitzt, so hat die soziale Ethik doch weiter eine starke Bindungskraft.

Auch die Massenträgheit des Apparats treibt das Projekt weiter. 70.000 Spezialisten in Industrie, Uni und Staat arbeiten an Atomenergie. Wenn auch nur das Brüter-Programm aufgegeben werde, sagte ein Wissen­schaftler am Forschungsreaktor der Kyoto Universität, “wird das den Bedarf für solche Spezialis­ten um eine Zehnerpotenz reduzieren”. 63.000 hoch­gradig speziali­sierte Wissenschaftler und Ingenieure, die jahrelang im Zentrum der energiepolitischen Planung standen und gute Verbindungen auf­gebaut haben, macht man nicht so leicht arbeitslos. xiv

Anders als Amerika und Russland hat Japan noch keinen großen Atomunfall erlebt. Die Sorge um die Umwelt kommt hier nur in katastrophischen Präze­denzfällen voran. Und als solcher kann nur fungieren, was im eigenen Land geschieht. Harrisburg und Chernobyl sind weit weg. Ein ‘Feuer auf der anderen Seite des Flusses’. Dr. Takagi berichtet:

38. O-Ton Engl. Takagi (2’12”)

Übers. “Zur Zeit des Unfalls in Chernobyl bin ich in Europa gereist. Dort hatten die Menschen große Angst davor. Sie nahmen das sehr ernst, weil die Nuklear-Tech­nologie ursprünglich in Europa entstanden ist. Otto Hahn hat die Atomspaltung entdeckt, und so weiter. Die Katastrophe von Chernobyl liegt im Zentrum der europäischen Kultur. Aber für die Japaner war der Chernobyl-Unfall kein Versagen ihrer Kultur. Sie sagten: das ist westliche Kultur. Wir Japaner über­nehmen nur die gute Kultur, aber nicht die schlechte, oder so ähnlich. Für Japaner ist das kein Versagen der Technologie, sondern der russischen Technologie. Es gibt viele katastrophale Auswirkungen von Tech­nologie wie in Minamata. Aber Japaner verbinden diese Katastrophen nicht mit dem Problem der Tech­nologie.”

Ich. Technologie ist in Japan nie das Problem, sondern immer die Antwort. Sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen werden immer Technofix-Lösungen vor­ge­zogen: mehr Meßstellen, mehr Chemie, fortge­schrit­tenere Filter. Um ein plastisches Beispiel zu geben: Im Juni fand die Internationale Ramsar-Konferenz zur Rettung von Feuchtgebieten in Hokkaido statt. Die dortige Kushiro-Marsch, Japans größtes geschütztes Feuchtgebiet, ist durch Chemikalien von Feldern, Golfplätzen und Industriezonen bedroht. Japans Um­weltministerium kündigte im Vorfeld der Konferenz eine Untersuchung an. Unter anderem sollen indi­vidu­elle Wasservögel per Satellit verfolgt werden. Der aberwitzigste Vorschlag jedoch zielt gar nicht erst darauf, die weitere Verseuchung der Marsch zu verhindern. Im Gegenteil sollen noch mehr Chemi­kalien in das Wasser­biotop gekippt werden, um die Schadstoffe zu neutralisieren. xv Die Technofix-Lösungen erlauben es, im Wirtschaftswachstum, in der ange­stammten Machtstruktur und im expansiven Lebensstil alles beim Alten lassen.

5. & 6. Musik Harmony of Japanese Music [KICH2021], 12. Song of the Ainu People: Sarorum Rimuse. 20″ stehen lassen, dann unterlegen. Anschließend Nihon no Matsuri [DCI-95009] 17. Aranu . ab 1’20” unterlegen bis “… Palimpzest”.

Beim Alten, beim ganz Alten anzusetzen, die Chance hätte es in Rokkasho gegeben. Wie ein Wink aus der Vorvergangenheit tauchten bei den Fun­da­ment­aus­grabungen in Rokkasho archäologische Funde aus der Jômon-Zeit auf. Das Jômon-Zeitalter datiert von 12.000, spätestens jedoch dem siebten Jahrtausend bis etwa 250 vor unserer Zeit. Das japanische Archipel war von einer Vielzahl von nomadischen Stämmen bevölkert, denen gemein war, daß sie Keramiken mit charakteristischen Schnurmustern herstellten, deren japanisches Wort ‘Jômon’ der Periode ihren Namen gab.

Da Schalentiere eines der Hauptnahrungsmittel der Jômon-Menschen waren, gehören Muschelhaufen zu den wichtigsten Funden der Archäologen. Sie lebten in reetgedeckte Wohngruben, die, wenn aufgegeben, auch als Abfallgruben oder Begräbnis­stätten benutzt wurden. Auch die Muschelhaufen dienten zur Bestat­tung der Toten. Die Sphären von Alltag, Ritus, Tot und Müll waren offenbar noch nicht deutlich getrennt. xvi

Die Jômon-Menschen, sie lebten mit ihrem Müll, und wenn’s zuviel wurde, zogen sie weiter. Seither ist der Mensch sesshaft und zivilisiert geworden und sein Müll so bösartig, daß jeglicher Verkehr mit ihm unterbunden werden muß. Und weil es eine Zivi­li­sation ist, die es eilig hat, wurde die bislang reichste Fundstätte aus dem Leben des Ur-Japaners hastig bei­seite geschafft. Unter dem Termindruck von Bau- und Haushalts­plänen hat man sich nicht die Zeit genom­men, die Spuren aus der Vergangenheit gründlich zu entschlüsseln.

Die Jômon-Siedlung von Rokkasho hat eine mitt­lere Halbwertzeit lang in der Erde geschlummert. Sie eröffnet uns eine Perspektive auf die Nachgeschichte des Atommülls. Die Shimokita-Halbinsel hat seit Jahrunderten den Ruf einer unzugänglichen, roman­tischen Landschaft. Nicht, daß man dort einen der strengen, einsamen Winter verbringen wollte, aber für traurige Gedichte eignet sie sich hervorragend. Bis heute ist sie eine leere Projek­tionsfläche für einen Lebensstil mit der Natur, den der größte Teil Japans weggeworfen hat, aber dennoch für ‘wahrhaft japa­nisch’ hält. xvii In der Nachkriegszeit erschien die Ge­gend als leerer, unbe­schriebener Raum, als tabula rasa, die mit Kriegs­heimkehrern, Straßen, Elektrizität, Schulen, Telefon in die Infrastrukturnetze ein­ge­spon­nen werden muß. Die erschlossene Leere schließlich erlaubt es der heutigen Zivilisation, ihren Müll in den Boden einzuschreiben.

Doch bei der Grundsteinlegung für den Atompark erwies sich diese Einschreibung des vernetzenden und vernutzenden Tieres Mensch in die leere Natur als Palimpzest.

Die Erde vergißt nicht. Der Mensch schon.

Werden sich in weiteren 10.000 Jahren Menschen oder andere intelligente Bioformen die Zeit nehmen, die Zeichen aus der Vergangenheit zu lesen? Werden sie über uns Heutige nachdenken und wie Bashô sagen:

Zitat “[… Es] ändern sich die Zeiten und wechseln Men­schengenerationen: die verbleibenden Spuren sind meist fraglicher Natur. Hier aber handelt es sich ohne Zweifel um ein tausendjähriges Erinnerungsstück, das mir hier und jetzt – vor meinen eigenen Augen – die geistige Haltung derer aus jenen alten Zeiten ent­hüllt.”

Ich. Oder werden sie es noch eiliger haben als wir, ihre eigenen Müll-Lager hier zu errichten? Werden sie viel­leicht den Müll überwunden haben? Letzteres ist kaum wahrscheinlich. Von den ersten Muschelhaufen bis zum verbrauchten Atombrennstoff war der Müll immer Schatten des Menschen.

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Anmerkungen

i Gerhard Hackner (Hrsg.), Die Anderen Japaner, München 1988

ii Naumann in: Horst Hammitzsch (Hrsg.), Japan-Handbuch, Stuttgart 1984, 1587 f.

iii Zôka ni shitagai, zôka nie kaere to nari (nach Toshiharu Osenko, Basho’s Haiku, Tokyo 1990, o.S.)

iv ibid

v G.S. Dombradi, Bashô. Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, Mainz 1985

vi Dombradi, 11

vii Dombrady, 133 f.

viii Grassmuck, Unverzagt, Das Müll-System. Eine metarealistische Bestandsaufnahme. FfM 1991, S. 272

ix Yomiuri Shinbun, 19.3.1990

x Asahi Evening News, 27.5.91

xi Nuke Info Tokyo 6/7 92

xii Asahi Evening News, 6.5.93

xiii Mainichi 6.1.93

xiv Nikkei Weekly 11.1.93

xv Nikkei Weekly, 24.5.1993

xvi J.E.Kidder, Jr. in: Japan-Handbuch, S. 318 ff.

xvii Alan Booth, Auszug aus seinem Buch Tsugaru, in: Tokyo Journal 6/93

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