erschienen in: Promedia, Januar 2018. (Als PDF der Druckfassung)
Die aktuelle rundfunkpolitische Debatte über den Telemedienauftrag dreht sich um Verweildauern, Drittplattformen und Presseähnlichkeit. Es geht um kleine, reaktive Schritte ohne Vision. Die medienwissenschaftliche und -praktische Debatte ist bereits drei Schritte weiter. Dass die Zukunft öffentlich-rechtlicher Medien (ÖRM) digital und partizipativ ist, gilt hier als Prämisse, ebenso dass Drittplattformen problematisch sind. Eine aktuelle Vision für die Zukunft der ÖRM ist „European Public Open Spaces“ (EPOS).
Die Erneuerung des Telemedienauftrags hat es nicht in den 21. Rundfunkänderungsstaatsvertrag geschafft. Die Ausweitung der Sieben-Tage-Regel und die Konkretisierung des Verbots presseähnlicher Angebote sind am Widerstand unionsgeführter Länder gescheitert. Die Ministerpräsidenten wollen Verleger und kommerzielle Rundfunkanbieter bis zur nächsten Änderung erneut konsultieren.
Diese hatten ihre Kampagne zur Einhegung der ÖRM im Netz eskaliert. Ein Höhepunkt war Mathias Döpfners populistischer Nordkorea-Vergleich. Michael Hanfeld flankierte in der FAZ mit Grammatikunterricht und sah – selbst im Irrealis – den groben Keil als angemessen für einen groben Klotz. Die Reaktion der ARD bezeichnete er als „Fake News“.
„Die unheimliche Macht. Wie ARD und ZDF Politik betreiben“ titelte der Spiegel, und Jan Fleischhauer kommentierte, dass er jede Hoffnung habe fahren lassen, dass sich das System unter dem Druck der Öffentlichkeit reformiere. „Ich fürchte, es ist unzerstörbar.
Die Hauptkonfliktlinie verläuft zwischen ÖRM und kommerziellen Medien. Vor allem „presseähnliche“ Angebote der ÖRM sollen eingedämmt werden, um Verlagen „Luft zum Atmen zu lassen“.
Nun ist das Internet weder Presse noch Rundfunk, sondern von Hause aus multimedial. Sein natives Medienformat ist gerade die Verbindung von Text, Bild, Grafik, Audio, Video, Links und Interaktionen. Und auch empirisch hat die Forderung wenig für sich. Die europarechtlich erwirkte Pflicht der ÖRM zur massenhaften Depublizierung 2008 hat offenkundig nicht zur Konsolidierung der Online-Geschäftsmodelle geführt. Die Luft, die den ÖRM genommen wird, kommt keineswegs automatisch den Verlagen zugute.
Niemand plane, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzuschaffen, heißt es aus der Politik. Und erinnert an eine Mauer, deren Planung auch dementiert wurde. Immerhin hat die Forderung nach Abschaffung oder Radikalschrumpfung mit AfD und FDP Einzug in den Bundestag genommen.
Diese Kritik des Spiegel lässt sich dagegen konstruktiv verstehen: „Es fehlt die Kraft für einen Neuanfang, es fehlen die Ideen für einen neuen Gesellschaftsvertrag über das öffentlich-rechtliche Fernsehen.“
Beim Auftrag ist so viel gewiss: Er bleibt gleich und er ändert sich. Als Grundlagen haben sich die positive Rundfunkfreiheit von Art. 5 GG mit ihrer Entwicklungsoffenheit und das Amsterdamer Protokoll zum EU-Vertrag bewährt. Letzteres geht von der Erwägung aus, „dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den Mitgliedstaaten unmittelbar mit den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen jeder Gesellschaft sowie mit dem Erfordernis verknüpft ist, den Pluralismus in den Medien zu wahren“.
Ändern muss sich der Auftrag, weil sich die Medienlandschaft wandelt. Immer mehr Menschen befriedigen ihre Informationsbedürfnisse auf Facebook, Youtube & Co. Da vor allem junge Menschen nicht zu den ÖRM kommen, müssen diese mit ihren Inhalten zu ihnen auf die Plattformen gehen. In Deutschland verfolgt Funk.net diese Strategie am konsequentesten und mit Erfolg.
Zugleich sind sich die ÖRM der Probleme bewusst: Plattformen können jederzeit Nutzungsbedingungen, technische Eigenschaften, Ranking usw. verändern, was es den ÖRM schwer macht, ihre besonderen Auflagen einzuhalten. Daseinszweck kommerzieller Plattformen ist es nicht, Public Value, sondern Shareholder Value zu steigern. Der Vorwurf, hier würden Beitragsgelder verwendet, um kommerzielle Unternehmen zu subventionieren, war daher zu erwarten. Lock-In Effekte bringen ÖRM wie individuelle Nutzer in die Abhängigkeit von Plattform-Monopolen. Schließlich rechnen viele Nutzer Inhalte den Plattformen zu. Ihre öffentlich-rechtliche Herkunft wird unsichtbar: ‘Habe ich auf Facebook gelesen’. Selbst Wikipedia wird von vielen als Dienst von Google wahrgenommen.
Die Antwort auf das Dilemma der Drittplattformen und das Verschwimmen der Wissenskategorien lautet: eigene Plattformen. Die BBC kündigte in der Charter-Erneuerung 2015 an, sie wolle ihre Plattform für andere öffnen. Mit Verweis auf die Wikipedia definiert sie eine offene Plattform als „Ort, der zahlreichen Produzenten und Nutzern erlaubt zu interagieren und Wert für einander zu schaffen. Plattformen gedeihen, indem sie alle dazu ermutigen, zu kreieren, zu teilen und sich zu beteiligen.“ Im Rahmen des “Ideas Service” hat die BBC begonnen, mit Museen, Bibliotheken, Hochschulen, Festivals und anderen öffentlichen Wissensinstitutionen zu kooperieren.
Die BBC-Pläne für eine offene Plattform sind in ganz Europa auf Resonanz gestoßen. In Deutschland haben Dörr/Holznagel/Picot (2016) einen öffentlichen Kommunikationsraum vorgeschlagen, den sie “Public Open Space” nennen. Neben ÖRM und öffentlichen Kultur- und Wissensinstitutionen sollen auch zivilgesellschaftliche Initiativen daran teilnehmen. Die Wikipedia als die am fünft-häufigsten konsultierte Wissensquelle im Netz bietet sich dafür an. Auch Medienkompetenzinitiativen wie Open Knowledge Foundation oder Chaos macht Schule können den Bildungsauftrag der ÖRM bereichern. „Sender müssen Plattform werden“, das fordert auch eine Gruppe von rund fünfzig Wissenschaftlern, darunter ich, in ihren „Zehn Thesen zur Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medien“.
„European Public Open Spaces“ (EPOS) ist ein Projekt, die zukunftsweisenden Vorschläge aus der Debatte zusammen zu führen und Synergien hervor zu bringen.
Verblüffender weise fehlt die europäische Dimension in den aktuellen Vorschlägen für offene Plattformen. Während die BBC ihren Ideen-Service als “demokratisches Geschenk an die Welt” bezeichnet, umfasst ihr Content-Netzwerk nur nationale Wissensinstitutionen. Das Projekt einer europäischen Demokratie kann aber nur kritisch begleitet von einer europäischen Öffentlichkeit gelingen. In dieser Überzeugung ist das EPOS-Modell paneuropäisch ausgerichtet. Die EBU ist daher ein naheliegender Startpunkt für die öffentlich-rechtliche Säule.
Europas Museen, Bibliotheken und Sammlung sind bereits in Europeana zusammengeschlossen. Zu den einzubeziehenden öffentlichen Wissensinstitutionen gehören ferner Hochschulen, Theater, die Bundeszentrale für politische Bildung.
Eine weitere Säule von EPOS sind Wissensallmenden: die Gemeinschaften von Wikipedia, Freier Software, Open Access, Open Educational Resources (OER), Freifunk usw. ÖRM und Allmenden sind verschieden, aber haben vieles gemein: Beide setzen sich für einen freien und universellen Zugang zu und den größtmöglichen Nutzen und Gebrauch ihren Ressourcen ein. ÖRM wie Wikipedia sind dem relevanten, mit Quellen belegten, qualitätsgesicherten, neutralen Wissen verpflichtet, dem öffentlichen Interesse, nicht dem des Profits.
Zuallererst, das macht die Debatte deutlich, müssen die Nutzer eine zentrale Rolle im EPOS-Modell erhalten. Schließlich geht es um ihre Bedürfnisse. Daher sind sie an Beauftragung und Aufsicht ebenso zu beteiligen wie an der Bereitstellung von Inhalten.
Schließlich wird in der Medien- und Kommunikationswissenschaften unter dem Namen „Civic Commons Online“ ein spezifischer Ansatz der Demokratieförderung diskutiert. Eine Habermasianische deliberative Demokratie benötigt öffentliche Räumen frei von staatlichen und marktwirtschaftlichen Einflüssen. Die gibt es im Internet jedoch kaum noch. ÖRM haben bereits die Aufgabe, die Meinungsbildung mit Information und Debatte zu versorgen, und erhalten dafür öffentliche Mittel, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten. Damit, so die Wissenschaftler, sind ÖRM bestens aufgestellt, um auch einen Online-Raum der politischen Deliberation zu etablieren.
EPOS bringt zusammen, was zusammen gehört. ÖRM, öffentliche und zivilgesellschaftliche Wissensinstitutionen sowie Bürger schaffen gemeinsam eine öffentliche, offene, partizipative Plattform für im öffentlichen Interesse produziertes Wissen.
Eine solche Partnerschaft bietet die Chance für eine dreifache Win-Situation: Öffentliches Wissen im Gemeinwohlinteresse wird in seiner Eigenlogik und im Kontrast zu kommerziellen Medien sichtbar, was Anerkennung und Legitimität der beteiligten Partner stärkt. Bürgerinnen und Bürger erhalten ein One-Stop-Portal für zuverlässige und hochwertige Information und Debatte, für aktuelle Kultur und Kulturerbe und für Orientierung in Zeiten von Postfaktizität und Hass. Schließlich würde die europäische Demokratie von einem Raum des paneuropäischen Austausches, der Meinungsbildung und der Deliberation profitieren.
Derzeit ist EPOS ein Diskussionsvorschlag und das Konzept für ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt. An Ideen für einen neuen Gesellschaftsvertrag über ÖRM mangelt es also nicht, anders als die Spiegel-Autoren behaupten. Wohl aber an einem Raum für eine breite, konstruktive Debatte, wie sie jüngst die ARD-Vorsitzende Karola Wille von der Politik forderte. Dass es Bedarf und Bereitschaft dafür gibt, haben auch Tausende von Kommentaren zu den Artikeln über unsere „Zehn Thesen“ gezeigt. Es braucht eine Debatte nicht nur im kleinen Kreis der Medienstaatssekretäre der Länder und der Hierarchen und Justiziare der Anstalten und der Verbänden der Medienwirtschaft. Da es um die Bedürfnisse der Gesellschaft geht, müssen wir alle darüber reden, wie wir uns als Gesellschaft über uns informieren und verständigen wollen.
Aller Unkenrufe zum Trotz gibt es natürlich Ideen für die Zukunft öffentlich-rechtlicher Medien. Lassen Sie uns drüber reden.