Das Müll-System
Volker Grassmuck & Christian Unverzagt
edition suhrkamp
Frankfurt/M. 1991
ISBN 3-518-11652-5
18,- DM
Abfall ist keine Substanz, sondern ein Verhältnis. Durch die Geschichte hindurch hatten die Menschen sich in einer überwiegend friedfertigen Beziehung mit ihrem ständigen Begleiter eingerichtet. Seit 100 Jahren jedoch hinterläßt jede Generation der nächsten einen wachsenden Berg von Altlasten. Der Abfall fordert, nachdem er einige Metamorphosen durchlaufen hat, die Fallensteller der Kategorien heraus – Gesetzgeber, Chemie-Ingenieure, Materialwissenschaftler, Marktforscher, Polizisten, Semiotiker, Kunstkritiker. Heute sind wir dabei, die gesamte Infrastruktur der Gesellschaft nach den Erfordernissen des Müll-Systems auszurichten. Was dabei rauskommt, ist allerdings – bestenfalls – eine Verdichtung und Verlagerung. Mit jeder Verdichtung wird der Tödlichkeitsgrad des Mülls erhöht, mit jeder Verlagerung ein weiteres Territorium in Altlast verwandelt. Die Zukunft hat bereits begonnen. Ihre Fragestellung lautet nicht mehr eigentlich: wohin mit dem Müll?, sondern: wohin mit uns? Hat der Müll System oder ist das System der Müll?
Volker Grassmuck war damals am Research Center for Advanced Science and Technology an der Universität Tokyo beschäftigt und ist heute am Institut für Informatik und Gesellschaft der Humboldt Universität zu Berlin.
Christian Unverzagt lebte damals in Berlin, dann in Taipei und heute in Heidelberg.
Inhalt
Der Triumph des Mülls
Wirtschaftswunder – Ex und hopp
Die Lust an der Ausscheidung und die Scham
Kinder und Abfall
Sperrmüll und Müllmedien
Italo Calvino: Die Städte und der Himmel
Schrott-Kunst
The Mutoid Waste Company
Der alte Feind des Menschen
Szenario einer möglichen Genese
Die Anfänge des Ökonologismus
Spuren 1
Das Sprechen über den Müll
Medizin und sozialer Müll
Müll-Recht
Amtsprosa
Müllsprache und Sprachmüll
Polit-Müll
Der Krieg und der Müll
Informationsmüll
Das Lesen im Müll
Abfall von der Archäologie
Kryptoanalyse des Mülls
Der Decodierer
Die ursprüngliche Akkumulation des Mülls
Die Müllwirtschaft
Ein Mann mit Eigenschaften
Strategien
Recycling
Die Materialien im einzelnen
Ein Brief aus Japan
Die Reste vom Recycling – Vorschein des Verschwindens
Wohnen 1 – Recycling in der Dritten Welt
Deponien
Auf Halde
Karl Otten: Die Gewesenen
Spencer Holst: Finders Keepers – Wer’s findet, darf’s behalten
Auf Schatzsuche
Genealogie der Macht über den Müll
Müllverbrennung
Luft – Austausch und Deponiegase
Ab-Wasser
Erde
Altlasten & Noggies
Die Toten und der Müll
Untertagedeponien
Spuren 2 – Grube Messel
Wohnen 2 oder Das urbane Müllmonster
Italo Calvino: Die andauernden Städte 1
Abfall vom Tabu oder Das Verlagerungsgesetz der Sondermülle in oben und unten offenen Kreisläufen
Die Hölle im Gefolge
Die Bewegung des Mülls und sein Verschwinden
Aufstieg und Fall des Joschka F. – Eine Müllographie in 3 Akten
Die Müll-Internationale
Geisterschiff-Biographie 1 – Khian Sea
Geisterschiff-Biographie 2 – Karin B. und Deepsea Carrier
Das Meer und der Müll
Atommüll
Ins Über-All
Ab- und Unfälle
Zum Gedenken der Nachwelt
»The Time of His Waste«
Semiotik
Der Schlüssel im Müll
Abfällige Gedanken
Paulus
Die Siegel
Die Müll-Kirche und der Geheime Orden
Glossar
Abbildungsnachweise
Pressespiegel
Vorwort der Herausgeber
»… und zu verderben, die die Erde verderbt haben.« (Off. II/I8) |
Nach reiflicher Überlegung haben wir uns entschlossen, die Aufzeichnungen, die uns das Schicksal zugespielt hat, der Öffentlichkeit vorzulegen. Die Ungeheuerlichkeit der darin aufscheinenden These hat uns dazu bewogen, alle Bedenken über den Geheimnisbruch und eine mögliche persönliche Gefährdung zurückzustellen.
Wir waren seit zwei Jahren damit beschäftigt, ein Buch über Müll & Schrott zu recherchieren. Wir sind dabei allen Verzweigungen, die sich uns im Material – in den Texten und im Gegenstand selbst – auftaten, gefolgt. Der Weg war somit kursorisch. Und gerade deshalb führte er uns folgerichtig zu dem Punkt, an dem wir die verborgenen Aufzeichnungen fanden, die unsere Arbeit schließlich überflüssig gemacht haben.
Unsere Recherche führte uns durch die Geschichte, über Müllplätze, in Kunstgalerien, in Gesetzestexte, in die Belletristik und schließlich unter die Erde. Dort, in dem Stollen eines ehemaligen Kohlebergwerks bei Braunlage nämlich, trafen wir auf ein computergesteuertes Müllsimulationssystem einer privaten Forschungs- und Ausbildungseinrichtung. Es gelang uns auf eine Weise, die wir erst im nachhinein als die einzig mögliche erfassen konnten, einen Pfad in diesem Simulationsmodell zu beschreiten, den der Autor der vorliegenden Texte dort hinterlassen hatte. Er führte uns auf einigen weiteren Umwegen zu drei Büchern mit handschriftlichen Aufzeichnungen. Es waren auf den ersten Blick Tagebücher oder Arbeits-Kladden. Beim Lesen entpuppten sie sich als manchmal obskurer Einblick in ein in seinem Umfang atemberaubendes Geflecht aus Macht und Mysterium, das wir, dem Autor folgend, Das Müll-System nennen.
Der Schlüssel zu diesen verborgenen Zeugnissen lag an einer Stelle, die, zumindest für die Fachöffentlichkeit, leicht zugänglich war. Seine Funktion als Sicherheitssystem bekam die Müllsimulation durch eine mögliche, aber für den Uneingeweihten unwahrscheinliche Lesart. Die Vermutung drängt sich auf, daß hier auf eine aufwendig ausgeklügelte Weise etwas sehr Gefährliches gesichert werden sollte. Etwas, vor dem die Umwelt und die Öffentlichkeit geschützt werden mußte – oder das umgekehrt vor der Öffentlichkeit geschützt werden sollte? Oder sollte dieses Wissen vielmehr vor einer anderen, viel größeren Macht verborgen bleiben? Der gefährlichste Müll, dem wir auf die Spur gekommen waren, ist eine Information.
Aus den Texten läßt sich wenig über den Autor erschließen. Er war Professor an einem Institut für Abfallwissenschaft. Er war kein Naturwissenschaftler, sondern ein vielseitig gebildeter Akademiker – eine Art Müllgenie. Müll und Abfall hat ihn bereits lange vor der Gründung der Fakultät interessiert. In einem »Der Decodierer« überschriebenen Textfragment charakterisiert er sich folgendermaßen: »Ich war, nein, ich bin ein privater Forscher. All meine berufliche Tätigkeit war mir doch nur ein Mantel, den ich mir zum Schutz vor den Stürmen gesellschaftlicher Entrüstung angezogen habe, um mein Leben mit dem Abfall von unserer Existenz verbinden zu können. Ich war immer ein Suchender, den eine unwiderstehliche Faszination geleitet hat; eine Faszination nekrophiler Abenteuerei, dachte ich lange. Später sah ich mich als Wahrheitssucher.« Über das Erstaunen, das er mit seinem Ansuchen auslöste, an dem Anfang der 70er Jahre gegründeten Institut forschen zu können, schreibt er an einer Stelle: »Sie begreifen nicht, daß sie den Phänomenen nicht gewachsen sind.« Und an einer anderen heißt es »Der Betrieb der Welt erhellt seinen Sinn vom Gipfel einer Deponie, wenn nur das Kreischen der Möwen die Stille zerreißt.«
Es ist uns nicht gelungen, Identität und Wirkungsfeld des Professors zu rekonstruieren. Die frühen Aufzeichnungen, die einen Schluß auf die Gründungszeit seines Instituts zuließen, sind gar nicht datiert. Spätere Eintragungen enthalten zwar Daten, aber keine Jahreszahlen. Zeitgeschichtliche Bezüge lassen auf einen Zeitraum von mindestens 18 Jahren schließen. Nachforschungen bei den in Frage kommenden Einrichtungen lassen es zweifelhaft erscheinen, ob es tatsächlich in der Bundesrepublik lag, ja ob es sich nicht vielmehr um ein von unserem Autoren entworfenes mögliches Institut für Abfallwissenschaft handelt. Dennoch sind alle Angaben von einer gründlichen Kenntnis des tatsächlichen Wissenschaftsbetriebes getränkt. Alle Angaben über Orte und Personen, soweit sie ihn selbst betreffen, sind sorgfältig getilgt.
Ob der Autor noch lebt, ist uns folglich nicht bekannt. Wir haben aber Grund zu der Annahme, daß es sich beim vorliegenden Müll-System um seine Hinterlassenschaft handelt.
Die Kladden enthalten Texte sehr unterschiedlichen Festigkeitsgrades. Neben ausgearbeiteten Vorträgen und Artikeln finden sich Notizen, fixierte Anregungen aus Gesprächen und Exzerpte, die möglicherweise zunächst als Vorarbeiten für eine Veröffentlichung gedacht waren, weiterhin Informationen, die ihm von Dritten anvertraut worden waren, so daß der eine Verfasser schließlich in dem andern drinsteckt wie die Schachteln in einem chinesischen Schachtelspiel. Nach reiflicher Überlegung haben wir uns entschlossen, nichts zu verändern, nach unserem Gutdünken auszuarbeiten oder gar zu zensieren. Wir wollten die Gedankenwelt unseres Meisters, die neben der Bestandsaufnahme von Fakten immer wieder zu philosophischen Betrachtungen und Aphorismen führt, möglichst authentisch weitergeben.
Der Tonfall der Texte reicht von der nüchternen Arbeitsnotiz bis zum religiös gefärbten Manifest. Zum Ende hin häufen sich kosmologische Reflexionen. Hier wird die Stimmung dunkler. Das Geheimnis lastet bereits auf unserem Autor, der seine Mitwisserschaft offenbar nur um den Preis seines Lebens oder einer noch schlimmeren Strafe hätte bekennen können. Also vertraute er sich, gleich Midas’ Friseur der Erdhöhle, seinen Arbeitskladden an. Ein Beben, ein gewisser Horror kehrt wie ein unruhiger Traum immer wieder. Doch noch hier hat er sich zurückgehalten, das Geheimnis nicht vollständig preisgegeben, als wage er nicht einmal, seinen inzwischen wohlverborgenen Arbeitsheften die ganze Wahrheit anzuvertrauen.
Ab dem Zeitpunkt einer ersten Vermutung über die Existenz des Müll-Systems hat er die Arbeitstagebücher mit immer ausgefeilteren Maßnahmen vor unbefugtem Einblick geschützt. Die Art der Zugangssicherung zu der Geheimnisdeponie, in der wir sie schließlich vorfanden, legt die Vermutung nahe, daß er sehr wohl an einen zukünftigen Leser dachte. Ein Leser jedoch, der gleich ihm selbst den Weg der zufälligen Suche, des zielgerichteten Verlaufens in der Müll & Schrott-Materie zurückgelegt hat. Der Schlüssel ist also das genaue Gegenstück zur Entfaltung des Geheimnisses in den Kladden selbst. Wohlgemerkt, die einzelnen Bestandteile des Schlüssels stellen selbst kein Geheimnis dar. Jeder, der sich die Mühe macht, wird sie vorfinden. Zum Schlüssel werden sie erst durch die Zusammenschau, so wie die über ganz Europa verstreuten Megalitformationen ihren Sinn erst dem Kartographen am Reißbrett offenbaren, der die komplexen Beziehungen zwischen ihnen auf einen Blick erkennt.
Was er von seinem durch das Sicherungsverfahren selektierten Adressaten erwartete, ist schwer zu mutmaßen. Erhoffte er sich insgeheim vielleicht, daß noch ein Zeitgenosse Das Müll-System finden und veröffentlichen würde? Oder rechnete er erst in zukünftigen Generationen mit einem Leser und betrachtete er deshalb sein Vermächtnis als eine Nachrede auf die dunklen Vorzeiten des Mülls? Wir wissen, daß unser Meister sich intensiv mit der Übermittlung von Wissen über geologische Zeiträume hinweg befaßt hat. Erwartete er, daß sich gänzlich neue Bioformen, gar Außerirdische mit der Entzifferung der folgenden Seiten abmühen werden? Über die Frage nach dem von unserem Meister antizipierten Leser läßt sich nur spekulieren. Die Frage nach dem tatsächlichen Leser des Müll-Systems wird sich beantwortet haben, wenn Sie, verehrter Müllinteressent, die letzte Seite umschlagen werden.
Die Texte sind weitgehend chronologisch angeordnet, doch gibt es immer wieder nachträgliche Ergänzungen zu früheren Einträgen, Kommentare, die, vom weiterreichenden Kenntnisstand des Autors aus, frühere Beobachtungen richtigstellen oder ihre Implikationen deutlicher aufzeigen. Viele Texte sind mit Überschriften versehen, die auf geplante Kapitel seines Buches hinweisen. Als Herausgeber sind wir im wesentlichen der gegebenen Ordnung gefolgt. Da sich der Autor selbst jedoch nicht hartnäckig an eine Chronologie gehalten hat, haben wir uns die Freiheit genommen, dort wo es die Klarheit des Zusammenhangs gebot, Umstellungen vorzunehmen. Spätere Hinzufügungen des Autors und Querverweise von uns finden sich z. T. in den Fußnoten.
Xiamen und Tokyo, im Dezember 1989
Volker Grassmuck
Christian Unverzagt
Spuren 1
Der Müll ist erst in jüngster Zeit zum bewußten Problem der Weltgesellschaft geworden. Als Materie ist er natürlich wesentlich älter. Vielleicht hilft es, ihn bis zu seinen Anfängen zurückzuverfolgen, wenn man verstehen will, wie er im Triumphzug in die urbanisierte Welt einmarschieren konnte, um sich dann als unbarmherziger Widersacher alles menschlichen Unterfangens zu enthüllen.
In nicht zu überbietender Datierung läßt der Müll- und Abfalltechnik-Experte Hans-Hermann Habeck-Tropfke kurzerhand mit der Entstehung des Menschen »das Zeitalter des Mülls« beginnen.(1) Abfälle gibt es zwar bereits in vormenschlicher Zeit von Lebewesen jeglicher Art, seien es pflanzliche Zerfallsformen, Ausscheidungen, Kadaver oder Knochen von Tieren; aber sie alle sind organischen Ursprungs und Schicksals. Sie werden durch Mikroorganismen zersetzt und verbleiben so im natürlichen Stoffwechselprozeß der Erde. Erst dem Menschen gelingt es – oder ist er dazu verdammt? – unzersetzbare Produkte aus diesem Prozeß auszuscheiden.
Mensch und Müll scheinen wie Körper und ihre Schatten zueinander zu gehören. Das Werkzeuge fabrizierende Wesen ist in seiner Geschichte aufs innigste mit den von ihm ausgeschiedenen Stoffen verbunden. Auch wenn der Mensch in ihnen nicht sein Innerstes erkennen möchte, so stellen sie doch die ersten Zeugnisse seiner Existenz dar. Das, was Menschen schon in der »Vorzeit« wegwarfen oder einfach liegenließen, dient der Wissenschaft von heute oftmals als einziges Hilfsmittel, um Rückschlüsse auf deren Lebensgewohnheiten zu ziehen. Steinwerkzeuge und Knochengeräte neben Säugetierknochen verraten etwas über die zwei Millionen Jahre alten Australopithecinen, deren Überreste man in Südafrika fand. Im Abfall entdeckte Asche zeugt von der Kenntnis und dem Gebrauch des Feuers durch den über 400 000 Jahre alten Homo erectus pekinensis.
In der Geschichte des Menschen kam es bekanntlich irgendwann zur Seßhaftwerdung der nomadisierenden Jäger und Hirten.(2) Mit dem festen Wohnort stellte sich die Frage der Abfallbeseitigung neu. Der bereits zitierte Habeck-Tropfke nimmt an, daß frühe Siedlungen mitunter wegen der nach und nach anfallenden Müllberge wieder geräumt wurden, um sich dem Ungeziefer, wilder Tiere und dem Gestank zu entziehen. Seiner These zufolge bedurfte es erst eines Lernprozesses, um mit dem gehäuften Müll-Anfall fertig zu werden. Ein Ergebnis eines solchen Lernprozesses wären die riesigen, auf einen Entstehungszeitraum zwischen 8ooo und 9ooo v. Chr. geschätzten Muschelhalden, die man in Skandinavien, Portugal und Spanien fand. In ihnen ist noch heute die damalige Erkenntnis gespeichert, daß man die unverwertbaren Nahrungsmittelreste eigens, und das heißt außerhalb des Wohnplatzes, lagern muß, wenn man sich das Leben nicht selbst ungenießbar machen will.
Die Geschichte ließe sich über das Anwachsen der Ansiedlungen zu urbanen Komplexen linear weiterschreiben. Aber das Kapitel der Städte ist bereits ein Palimpsest. Es überschreibt wichtige Resultate des »Lernprozesses«, die im Leben der Stämme und der Dörfer bis in unser Jahrhundert hinein organisiert waren. Überall dort, wo die Dimension des Sozialen durch das Maß kollektiven Zusammenlebens begrenzt blieb, war es nämlich möglich, das Ausgeschiedene wieder in die natürlichen Zyklen von Werden und Vergehen zu integrieren. Man kompostierte den organischen Abfall und ließ die Fäkallen als Dung der Fruchtbarkeit dienen. Anorganische Materialien wie Scherben oder besagte Muschelschalen lagerte man an speziellen Orten ab, wo sie sich zu eigenen Landschaftsformationen schichteten (und heute als kulturelles Sediment wieder aufgefunden werden können).(3) Die im kollektiv geregelten Leben verwendeten Materialien und ihre – modern gesprochen – Entsorgungspraxis laufen noch synchron mit den natürlichen Zeitzyklen. Erst die lineare Beschleunigung der Zeit durch das Stadtwesen läßt den Müll zum Problem werden.
In den frühen Städten schwillt der Müll durch die Bevölkerungskonzentration und die Entfernung vom ländlichen Boden zu einer schier unbewältigbaren Menge an. Aber immerhin, es gibt zwei mächtige Faktoren, die seinem unkontrollierten Wuchern entgegenarbeiten: die Religion und die Technik.
Dort, wo die ältesten uns bekannten Städte entstanden: in Indien, im Zweistromland, in Ägypten, im Nahen Osten, Griechenland oder Rom, war das Leben noch von einer starken Religiosität geprägt; und die jeweiligen Religionen legten großen Wert auf die Einhaltung ihrer Sauberkeitsvorschriften, denn die Reinheit von Seele und Körper jedes einzelnen wurden als unerläßlich für das Wohl des Gemeinwesens betrachtet. Es gab Vorschriften für die Verrichtung der Notdurft an separaten Orten(4), und es gab Reinigungszeremonien mit strikter Anwesenheitspflicht. Wer in Rom z. B. dem alle vier Jahre vor den Mauern abgehaltenen Reinigungsopfern fernblieb, verlor sein Bürgerrecht. Bei dieser rituellen Reinwaschung konnte nur das Opfer eines Stiers, eines Schweins und eines Schafs den im Lauf der Jahre angesammelten Makel von der Stadt nehmen.
Um den Reinlichkeitsgeboten nachkommen zu können, bedurfte es in den Städten eigens ersonnener Techniken; aber auch Ämter, wie das des Telearchen in Theben, der für die Straßenreinigung und Abfallbeseitigung verantwortlich war. Im alten Babylon war das städtische Leben um den Tempel organisiert. Die Macht des priesterlichen Stadtherrn gründete nicht zuletzt in seinem Amt als Wasserinspektor, das ihm die Aufsicht über das Bewässerungssystem des Landes sowie die Stadtreinigung zuwies.
Die sich entwickelnde städtische Intelligenz stellte ihr Organisationsvermögen nicht nur im militärischen Bereich unter Beweis, sondern auch in (noch heute) beeindruckenden Konstruktionen technischer Anlagen zur Abfallbeseitigung. In der indischen Stadt Mohendscho-Daro, in der 2 5oo v. Chr. etwa 5o ooo Menschen lebten, gab es bereits Baderäume in größeren Häusern, Aborte und ein Kanalnetz für Abwässer. Verschmutztes und Regenwasser wurde nicht direkt in den Straßenkanal geleitet, sondern zunächst
in ein Absetzbecken, um Grobstoffe abzusondern. Sogar eine organisierte Müllabfuhr scheint es gegeben zu haben. Räume mit starkem Abfall-Anfall wie Küche und Klo waren über einen quadratisch gemauerten Absturz mit der Außenseite des Hauses verbunden, an deren Fuß Tonvasen für den Müll bereitstanden. Wahrscheinlich war man um eine getrennte Sammlung zwecks Wieder- bzw. Weiterverwendung der Fäkalien und Küchenabfälle bemüht. Ähnlicher Verfahren bedienten sich auch die Babylonier und die Assyrer, während die Abortanlagen des Palastes von Knossos mittels eines umgeleiteten Wasserlaufs gespült wurden.
Aus der Bibel wissen wir, daß David die Eroberung seiner Geburtsstadt Jerusalem gelang, indem er Joab durch die schmutzigen Abwässerkanäle der Stadt schickte, um die Wachen zu überrumpeln. Es war übrigens derselbe Kanal, der das Blut der Opfertiere zu den Klärteichen führte. Jerusalem hatte auch die erste uns bekannte Müllverbrennungsanlage. Auf seiner Deponie im Tale Kidron verbrannte man alle nicht kompostierbaren Müllbestandteile und verringerte so das Gesamtvolumen des zu lagernden Mülls. Man sieht: Die Grundideen der noch heute gültigen bzw. erst wiederentdeckten Verfahren zur Müllentsorgung wurden bereits früh durchgespielt.
Noch ist es nicht die gefährliche Materialität des Mülls, sondern seine ins Ungeheure wachsende Menge, die ihn problematisch macht. Am plastischsten stellt sich dies vielleicht im alten Rom dar, wo man gigantische Projekte realisierte, um der Lage Herr zu werden. Ob mit Erfolg oder nicht, bleibt eine Frage der Ansprüche und Gewohnheiten, die man damals noch nicht in Form von »Objektiven« Meßwerten codierte.
Der griechische Geograph Strabo würdigte neben der Pflasterung der Straßen und der Wasserversorgung vor allem die Kloaken als städtebauliche Leistungen der Römer. In dem Einverleibungsmoloch Rom hatte man schon in ältester Zeit an ein künstliches Ausscheidungsorgan gedacht. Bereits im 6. Jahrhundert vor Christus baute man die Cloaca Maxima, die bis heute geduldig Abwässer aus der Stadt leitet und somit das älteste in Gebrauch befindlieche Bauwerk ist. Man schätzt, daß 6o n. Chr. die Wassermenge, die durch die Cloaca strömte, über 25 ooo m3/h betrug. Aber auch sie konnte das Abfallproblem der Stadt nicht lösen. In dem zur Millionenstadt angewachsenen kaiserlichen Rom gab es etwa 46 ooo bis zu zehnstöckige Mietskasernen, die durchschnittlich von 2oo Menschen bewohnt wurden. Diese Mietskasernen waren zu gigantischen Blöcken zusammengeschlossen, die man insulae nannte. Wasserklosetts gab es nur bis zum ersten Stock, und so wurde der ganze Unrat in Eimern auf die Straße gestellt. Als Geruchsraum hatte die Stadt schon ihren unverkennbaren Charakter. Trotz Cloaca Maxima, trotz erster öffentlicher Toiletten, die gleichzeitig mit dem Kolosseum errichtet wurden (72 bis 8o n. Chr.) und trotz einiger hundert, vor allem von Agrippa angelegter Überlaufbrunnen, die die Straßen durchspülten, häufte sich der Unrat. Die umliegenden Felder konnten seine Menge bald nicht mehr aufnehmen und so warf man ihn zusammen mit Tausenden von Tierkadavern und Menschenleichen (dem Abfall der »Spiele«) in offene Gruben. Nicht nur draußen vor der Stadt, wo die ehrenwerten Toten lagen, sondern bis in die Elendsviertel hinein wurden zu diesem Zweck dreieinhalb Meter im Geviert und neun Meter tiefe Gruben und Gewölbe angelegt. Für die in ihrer Nähe Lebenden bedeuteten sie physische, für die sie nicht Wahrnehmenden psychische Degeneration. Rom hinterließ nicht nur ein bewundernswertes technisches Konstrukt zur Abfallbeseitigung, sondern auch die Einsicht, daß der städtische Glanz mit einer stinkenden Rückseite behaftet ist.
Hinterlassenschaft war überhaupt eines der ersten Projekte, mit dem die Städte sich ihren Sinn schufen. in Ägypten bildeten sie sich um das noch zu dessen Lebzeiten zu errichtende Grabmal des Pharao. Da jeder dieser Herrscher sich einen anderen Standort seiner Verewigung aussuchte, waren diese Städte so kurzlebig, daß sich in ihnen nicht der Abfall der Zeit ansammeln konnte und wir keine Spuren mehr von ihnen haben. Anders als beispielsweise in den langlebigen Metropolen des Zweistromlandes, wo man den Surplus-Unrat, für den keine technische Lösung bereitstand, auf die Straße warf. Da es noch keinen Giftmüll im modernen Sinne gab, mußten die Bewohner ihren Geruchssinn nur entsprechend urbanisieren, um nach der Devise »Tritt sich fest« handeln zu können. Man baute die Türschwellen der Häuser einfach Generation für Generation ein Stückchen höher, während die alten in dem von ihren Bewohnern hinterlassenen Abfall und dem der folgenden Generationen verschwanden. So ging das alte Babylon permanent in einem neuen unter – bis es sich schließlich doch unter die Erde gewachsen hatte.
Der Niedergang des römischen Reiches unter dem Ansturm der nördlichen Völker bedeutete auch in der Geschichte des Mülls eine Zäsur. Während der Völkerwanderungen hatten die verfallenden Städte Zeit, ein wenig auszulüften. An Zugluft mangelte es der mittelalterlichen Stadt dafür wieder um so mehr. Anders als die mit geraden und breiten Straßen angelegte antike Stadt wuchs sie innerhalb ihrer Befestigungsmauer entlang enger, gewundener Gassen, auf denen man auch noch die Schweine frei herumlaufen ließ, wo sie wenigstens vor hungrigen Feinden in Sicherheit waren. Man mußte sich neu an ein Leben mit dem Unrat gewöhnen. Nicht nur, daß man die Tiere schlecht zu einer Abortbenutzung
anhalten konnte, auch den Menschen waren die großen technischen Errungenschaften des antiken Stadtlebens in Vergessenheit geraten, so daß die Straße zwangsläufig auch die Funktion der Deponie mitübernehmen mußte. Erst nach und nach und keineswegs in einer stetigen Entwicklungslinie rüstete man sich wieder zum Kampf gegen den Müll. In Paris ließ Philipp II. 1185 mit der Pflasterung der Straßen beginnen, nachdem er durch den Geruch des aufsteigenden Faulgases einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Hamburg zog 1269 nach, Prag 1331, Nürnberg 1368 und Basel 1387. Durch den festen Belag war es möglich, die Straßen zu reinigen; allein, wer dies tun sollte, blieb eine vielerorten ungelöste Frage. In Berlin hatte man diese Aufgabe oftmals den Frauen zugeschoben, ab 1587 einem Scharfrichter und seinen Leuten. In Wien wurden aufgegriffene Dirnen, nachdem man ihnen den Kopf kahlgeschoren hatte, zu Säuberungsarbeiten herangezogen. Sie bewährten sich sowenig wie die sie ablösenden Sträflinge unter Aufsicht altgedienter Soldaten. Die unzureichende Behandlung des Müllproblems glaubte man in Preußen durch rigorose Maßnahmen aufbessern zu können. 1666 stellte man sogenannte Gassenmeister an, die jedoch nur für den Abtransport des Mülls zuständig waren. Aufladen mußten ihn die Hausbesitzer selbst. Wer dem nicht nachkam, dem wurde gemäß kurfürstlicher und später von Friedrich Wilhelm I. erneuerter Anordnung der Unrat in die eigene Wohnung geschaufelt. Erst mit dem Sieg des Bürgertums, das bereits seit dem 17. Jahrhundert hier und dort von dem Privileg Gebrauch machen konnte, auf über dem Dreck errichteten Bürgersteigen zu promenieren, setzte sich erneut die Idee durch, daß die Müll- und Abfallbeseitigung eine unerläßliche Aufgabe der kommunalen Verwaltungen sei, die als ehrbare Tätigkeit auch entlohnt werden müßte.
Das »Müll-Mittelalter« währte lange. Mit Beginn der »Neuzeit« hatte es sich sogar noch riechbar verfinstert. Der religiöse Dogmatismus im Zeichen der sich gegenseitig überbietenden Reformation und Gegenreformation setzte das christliche Diktum von der sündigen Nacktheit öffentlich durch. Die Reinheit der Seele wurde als durchaus unabhängig von der körperlichen betrachtet, und so schloß man die kollektiven Tauchbäder, in denen man nichts weiter als einen Sündenpfuhl erkennen konnte. Zwar legte man fürderhin auch größeren Wert auf separate, den Blicken der Mitwelt entzogene Orte zur Ausscheidung des Körperinneren (alles Innere war nun mehr oder weniger mit dem Makel des Sündligen behaftet und das hatte der Mensch ganz allein mit Gott auszumachen), aber die anschließende Entsorgung blieb als Problem lange nicht recht begriffen. Selbst im Prachtschloß von Versailles gab es keinerlei sanitäre Anlagen, und so zog man sich zur Verrichtung seines Bedürfnisses einfach hinter den nächsten gold- oder silberdurchwirkten Brokatvorhang oder eine gestutzte Hecke im Park zurück. Noch in der großen Enzyklopädie von I755 werdendiebegriffe »bain«und »douche« als »terme de chirurgie« bezeichnet.
Es ist nicht verwunderlich, daß diese Zustände den Menschen irgendwann »stanken«. Mehr als fraglich bleibt allerdings, ob technische Lösungen den urbanen Müll-Anfall in Schach halten können. Die Erfahrung der antiken Stadt von der Übermacht des Abfalls könnte auf andere und gefährlichere Weise als im Mittelalter vergessen sein. Die bürgerliche Abhilfe, die dem Unratgestank geschaffen wurde, scheint selbst ein Teil eines noch viel gigantischeren Müllproblems zu sein. War die Abfallhäufung von Anfang an der Schatten der urbanen Lebensweise, so blieb sie doch bis zu diesem Jahrhundert nur eine lästige Plage; vor allem in Zeiten der Cholera, des Typhus, der Malaria und der Pest. Aber niemals schienen diese gottgeschickten Zeiten das Projekt Stadt in Frage zu stellen. Das könnte sich geändert haben.
Informationsmüll
Ich habe gerade druckfrisch den »Abfall-Katalog« des Bundesamtes auf den Tisch bekommen. Beim Durchblättern sticht vor allem die ungeheure Fleißarbeit ins Auge, die dahintersteht. Aber bevor ich mir den Wälzer genauer vornehme, das habe ich schon gemerkt, sollte ich erstmal einige Gedanken zu den verschiedenen materialen und immateriellen Erscheinungsformen des Mülls fixieren, die mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf gehen. Sonst besteht nämlich die Gefahr, daß sie von der Informationsflut zugemüllt werden. Das ist übrigens typisch – zum Stichwort »Informationsmüll« gibt es natürlich keinen Registereintrag. Nein, da müssen sich schon noch andere Ordnungs- und Klassifizierungssysteme für den Müll finden lassen, als die von Techno- und Bürokraten.
Materialien: Abfall ist keine absolute Kategorie. Abfall konstituiert ein Verhältnis zwischen einem Ausgangsstoff und einem Endstoff – Transsubstantiation / Transmutation der Alchimie / Stoffwechsel / Alterung, Verfall und Tod / Mutation und Selektion etc.
1. Abfall entsteht bei der Herstellung aus und Säuberung von einem Rohstoff (als Späne beim Hobeln, als Nichtidentisches im Prozeß der dialektischen Vernunft)
2. Abfall ist der Endzustand eines Produkts nach der Phase seiner Verwendung
Der zweite Aspekt kommt in den gängigen ökonomischen, technischen, philosophischen Diskursen nicht vor. Nur als Verschwundenes, Vergessenes, als Negativ.
Ökonomisch spricht man von Zirkulation der Arbeitskraft, des Geldes und der Ware, wobei die Ware nicht eigentlich zirkuliert. Sie wird produziert, verbraucht und was von ihr übrig bleibt landet auf dem Abfall – also ein linearer, gerichteter Prozeß. (Ausnahme: der Diskurs der Abfallwirtschaft, der den der Ökonomie im großen von seinem Ende her aufnimmt.)
Technisch ist die Rede von Verschleiß als Altern vor der Zeit, von der Ersetzung durch neue Maschinengenerationen (wobei die ersetzten im Diskurs ausgespart bleiben). Der Maschinenbau kennt zwar abfallproduzierendes (spanendes) Formen (Fräsen, Hobeln) nach 1., aber nicht den Abfall nach 2. (höchstens als Transsubstantiation: nicht Schrott-Maschinen, sondern sekundärer Rohstoff).
Auch philosophisch ist die Rede von Abfall nach 1. bei der Herstellung der einen Welt durch Vernunft, von Konsens durch Diskurskontrolle etc., bei der Späne fallen. Aber das Denken läßt keine Abfallhalden hinter sich zurück. Verbrauchte Ideen werden entweder recycelt (in nachfolgenden aufgehoben) oder lagern in Bibliotheken neben den anderen, wo man ihnen nicht ansieht, daß sie Schrott sind, und aus denen sie eines Tages in einer Renaissance wieder auftauchen. Idealiter. Natürlich wird da auch einiges unter den Teppich gekehrt.
Gegen ein systematisches Recycling der Texte richtet sich Virilio: »Die Modernität taucht nicht auf als Filiation, wie Foucault sagen würde, als Genealogie. Sie taucht nur auf als Überraschung, Zufall, Unfall. Sie ist der Schimmel im Penicillin. Daher die Absage an die Bibliotheken, es sei denn man fischt sich aus ihnen wie aus Abfalleimern Stücke von Frauen, Stücke von Lastwagen, Vaubans und Fliegende Festungen.«”(5)
… und Immaterialien: Wenn Abfall also keine Substanz, sondern ein Verhältnis ist, dann müssen die ökonomischen und technischen Diskurse ihren Gegenstand verfehlen. Ihnen entgeht, daß die Verwertung eine Umwertung ist; daß Wertung das Setzen von Differenzen meint, das Bedeutung schafft; daß sich nicht in erster Linie Materialien verwandeln, sondern die Bedeutungen des Materials. Der Begriff des Recycling unterstellt, daß Materialien zirkulieren. Was tatsächlich zirkuliert, sind Bedeutungen, oder, um diesen hochangesetzten und aus der Mode gekommenen Begriff zu vermeiden, Informationen. Nur durch einen dichten Pelz von solchen Informationen hindurch können wir auf die Dinge (den Müll natürlich eingeschlossen) zugreifen. Ein Bild für dieses Verhältnis wären jene Handhabungsautomaten, mit denen Menschen hinter dicken Bleiglasscheiben hochradioaktiven Atommüll manipulieren. Wir befinden uns also in einer Welt aus Informationen, und die unterliegen anderen Gesetzen als jene, die die Materialwissenschaften für ihren imaginären Gegenstand entworfen haben. Die Grundoperationen, die für Information zugelassen sind, heißen Schreiben, Lesen, Löschen und Anhalten.(6) Darauf beruhen alle höheren Bedeutungsebenen der Information, und die können natürlich auch so aussehen, wie die Materialverehrer das gerne hätten, aber auch so, wie jeder x-beliebige andere, der die Grundegeln kennt, es gerne hätte.
Information ist nur ein möglicher Zustand im Zeichengewimmel, der ständig von der delete-Taste bedroht ist. Alles ist nur eine Umschrift, und es ist nur eine Lesart, die alles zum Müll werden lassen kann. Aber der Informationsmüll ist selbst ein fruchtbares Data-Biotop. Leere und Fülle wechseln sich aus wie Yin und Yang. Überfülle und Leere sind nur durch die Nuance einer Betrachtungsweise unterschieden.
Information verändert ihre Bedeutung ganz ähnlich durch Stoffumwandlung wie die Materie. Sie macht Metamorphosen durch. Eben noch Information, im nächsten Moment schon Datenmüll. Die Werbung hat die Vorgabe nicht nur hierfür gesetzt. Nicht nur das schock-artige Aufscheinen und sofortige Veralten, sondern auch die wechselweise Umwertbarkeit von Kaufinformation und Hochglanzabfall gibt das Modell für die Daten ab. Daten werden zur Information nur, wenn sie auf einen bestimmten Kontext hin gelesen werden. Und der ist wechselhaft, gleich-gültig, zu-fällig – eine Geschmacksfrage. Das Material, das in-formiert wird, um eine Information zu ergeben, ist genauso für alle Einschreibungen offen, wie die Lesarten sich keiner Beugung widersetzen. Das Prinzip des Informationsraumes besteht nicht in der Festlegung auf eine Möglichkeit, sondern in der Grenzenlosigkeit dieser Möglichkeiten selbst. Virtuell und virulent sind die Wirklichkeiten in der fließenden Welt der Information. Es gibt in ihr keine Vernichtung, nur Zustandsveränderung.
Das Material der Ware wird unter Energieeinsatz aus der Natur gewonnen oder im Labor produziert. Es wird über mehrere Schritte veredelt, mit anderen Materialien kombiniert und in eine funktionale Form gebracht. Dann wird es vernutzt und schließlich entsorgt. Für die Nettosumme geht dabei nichts verloren, außer Energie. Egal ob Recycling, Deponierung, Verbrennung, Meeresboden oder All; ob als Sero, Gift oder ästhetisches Ärgernis – die Stoffe bleiben uns erhalten. Das ist die Lehre des Ökologismus. Nichts verschwindet.
Für die moderne Kraftmaschinentechnik ist die Natur ein vorausberechenbarer Zusammenhang von Kräften. Apparatur und Experimente erzwingen, schreibt Heide-guerre,(7) »daß sich die Natur in irgendeiner rechnerisch feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar bleibt«. Es geht ihr nicht um ein Her-vorbringen, sondern um ein Heraus-fordern. Natur entbirgt sich den Grundlagenwissenschaften des industriellen Prozesses (und Heide-guerre) als Hauptspeicher des Energiebestandes, das Erdreich als Kohlenrevier, der Rhein als Wasserdrucklieferant. Kohle wird gespeichert, damit sie zur Stelle sei, um bestellt werden zu können, damit sie das Getriebe treibt. Damit erscheint selbst der Rhein als etwas Bestelltes. »Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten sind die Weisen des Entbergens. . . . Steuerung und Sicherung werden … die Hauptzüge des herausfordernden Entbergens.« Alles Herausgeforderte geht in den Bestand dessen, was bestellfähig ist und was uns nicht mehr als Gegenstand gegenübersteht. Der Gegenstand verschwindet in dem Gegenstandslosen des Bestandes.
Allerdings gehört zum Bestand auch das, was vom Anstand Abstand genommen hat, der Müll. Das haben die Produzenten und ihre hilfsarbeitenden exakten Wissenschaften (und mit ihnen auch Heide-guerre) übersehen. Und wenn das natürliche Material (um wieviel mehr erst das unnatürliche) sich schon mit solcher Leichtigkeit mit seiner herausgeforderten informationellen Form austauschen kann, wie soll es dann zwischen ihrer Wert- und ihrer Abfallform eine Grenze geben. Nach dem Fall kommt immer der Abfall.
Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten – das sind die Bewegungen des Prozesses, der Müll produziert; es sind die Schlachtrufe des knowledge-engineering, das das Wissen zur Ingenieursaufgabe macht und sog. Information produziert; und das sind schließlich die Strategien, die auf den Mül angewendet werden. Steuerung und Sicherung sind die Paradigmen des industriellen Prozesses als Ganzem, der Information, des Mülls.
Erz, Metall, Stahl, Produkt, Schrott – das ist eine Wandlungsreihe der materiellen Ware. Die Wende vom Naturgegebenen, einem ursprünglichen Datum, zum Ver-Wendeten. Auch das verwendete Immaterielle hat einen Ursprung: die wirkliche Welt. Nur ist hier der imaginäre Status des Ausgangspunktes der Wandlungsreihe evidenter. Hier gibt es nichts zu erkennen, entdecken, hervorzubringen. Die prokrustische Gewalt des Herausforderns schafft zuallererst etwas, das nachträglich locker an eine mögliche Wirklichkeit geheftet wird. Es erscheint im zweiten Schritt als neues Gegebenes, als Daten, die über endlose Stufen verdichtet, neukombiniert, indexiert werden. Materialien wie Immaterialien haben die Neigung zu gewaltigen Halden anzuwachsen und schließlich als Lawinen über uns hereinzubrechen. In ihrer Müllform stellen beide sich als Problem von Volumen und Konzentration. Volumen stellt sich bei den Immaterialien naturgemäß nicht als Raumproblem, sondern, wie bei der geordneten Deponie der Materialien, als eines des Retrievals, des Zugriffs auf das Abgelegte. Da sich alles unter Umständen vom Müll wieder in Ressource verwandeln kann, bedarf es einer Meta-Information, eines Index, um es wiederfinden zu können. Die Verdichtung senkt den Platzbedarf, aber erhöht die Konzentration, und damit die Störanfälligkeit sowie die Giftigkeit, …und sie senkt die Zugriffsgeschwindigkeit.
Für das, was in keinem heute denkbaren Fall sich wieder in Sero verwandeln lassen kann, müssen Entsorgungstechniken bedacht werden. Eine solche ist der Einsatz von Viren und anderen Mikroben. Sie schaffen Leere im Speicher des Computers und in dem der Umwelt. Sie schaffen einen sekundären leeren Raum, bereit für neue Projektionen und Einschreibungen. Sie machen die mit Gegebenem zugemüllte Arbeitsfläche zur tabula rasa, d. h. zur Ressource.
Bei der Information ist es evident. Es gibt nur Zustandsveränderung. Auch Viren vernichten nichts. Sowenig, wie man sie vernichten kann. jedes Immunsystem zwingt die Viren nur zur Mutation in eine andere Gestalt. Sie sind keine Wesen, sondern ein Prinzip. Die Speicherzellen, die Null oder Eins aufnehmen können, sind ein reiner Möglichkeitsraum, der bis zur Müllwerdung von außen, bis zum definitiven Stromausfall, als Boden der Wirklichkeit besteht. Es gilt der Möglichkeitserhaltungssatz. Man kann alles auf Null oder alles auf Eins stellen, tabula rasa machen – und dennoch ist nichts verloren. Unaufhörlich werden die 0/1 Zustände ausgelegt, bereits durchgespielte Möglichkeiten rekonstruiert und neue erschlossen. Es gibt kein Ende, es findet ständig statt: indem alles wieder in die statistische Gleichvertellung von Null und Eins zurückfließt, ins Weiße Rauschen. Dieses wird in einer anderen Lesart, dem Zufallsgenerator, bereits selbst zur Information.
Information ist das geregelte Setzen von Ladungen. Die Materie wird zu einer Maschine in-formiert. Die Regel der Setzung, der Belegung von Speicherzellen, muß immer wieder neu gefunden werden. Jede nur mögliche diskrete Maschine kann im Computer nachgeschaffen werden, so die Definition von Turing. Wir brauchen keine Wirklichkeits-Maschinen mehr zu bauen, wir brauchen nur die universelle Informationsmaschine zu beschriften, zu programmieren.
Jede mögliche schließt natürlich auch jede Menge Müllmaschinen ein. Jeder Programmierer hat seine Festplatte voll mit Programmruinen, von denen man nicht sagen kann, ob sie sich noch im Aufbau befinden oder durch jeden weiteren Eingriff vollkommen in sich zusammenstürzen würden.
Spricht man vom Material und seiner immateriellen Erscheinungsform, muß man fragen, von wo aus sprechen wir über Müll? Kann es überhaupt ein anderer Ort sein, als die Beckettschen Mülltonnen? »Nagg verschwindet im Mülleimer und klappt den Deckel zu. Nell rührt sich nicht. Worüber können sie denn reden, worüber kann man noch reden? Rasend: Mein Königreich für einen Müllkipper! Er pfeift. Weg mit diesem Dreck! Ins Meer damit!«
Die Reste vom Recycling
Vorschein des Verschwindens
Recycling basiert auf der Idee, daß im Universum nichts verlorengehen kann; oder präziser noch: auf der Hoffnung, daß der Verwertungsprozeß sich die Welt restlos aneignen kann. Dazu ist die Umbiegung linearer Prozesse mit ihrem Abfallausstoß in die ökologische Kreisform nötig. Produktion und Re-Produktion ohne Ende. Die Dinge dürfen sich nicht endgültig aus dem Kreislauf des Nützlichen verabschieden. Die vernutzten Dinge werden nicht in den wohlverdienten Ruhestand versetzt; das Ausgeschiedene wird zum zweiten Außerhalb erklärt, um erneut das Zeichen seiner planmäßigen Verarbeitung eingebrannt zu bekommen. »Ich war eine Dose«, verkündet ein buntes, aufziehbares Blechhühnchen, »Ich auch« ein anderes, »Ich auch« …
Beginnt die Idee des Recycling mit einer leidenschaftlichen Suche nach der Noch-Verwertbarkeit der einmal produzierten Dinge, so ging es seit der Bewußtwerdung über die Begrenztheit der Ressourcen um die Wieder-Verwertbarkeit der Materie. Der Fortschritt soll weitergehen können, nur darf er nicht die einmaligen Ressourcen mit einmaligem Gebrauch vernichten.
Die in der Recycling-Idee enthaltene Philosophie der Restlosigkeit macht Anleihen bei der Reinkarnationslehre. Ewig sollen die Dinge wiedergeboren werden. Aber es scheint, als ob eine böse karmische Verstrickung auf dem Projekt läge. Die Wieder-in-den-Kreis-Zurückführung der Moderne ist schwieriger als man dachte. Nicht nur das Papier wird dunkler und die Kontraste unschärfer, der Aufwand, um die verendenden Zeichen für die Zivilisation wiederzugewinnen, steigt unerbittlich im Verhältnis zu seinen Früchten. Die Zeichen der Verendung können nur noch um den Preis einer schleichenden Degeneration daran gehindert werden, sich schon jetzt unberechenbar und drohend von der Zeit des Plans abzukoppeln.
In einer bis dato beispiellosen Großaktion ließ im Mai 1989 die Berliner Umweltsenatorin gleichzeitig 439 Betriebe der Recyclingbranche durchsuchen. Es bestand der begründete Verdacht, daß gefährliche flüssige Abfallstoffe nicht ordnungsgemäß entsorgt, sondern zum »Wirtschaftsgut« umdeklariert worden waren, um aus ihnen Kapital zu schlagen. Verunreinigte Lösungsmittel und Nitroverdünner wurden z. B. als Brennstoff nach Polen geliefert.
Auch wenn die Industrie- und Handelskammer wütend »gegen die Kriminalisierung einer ganzen Branche« protestierte, war leider sehr schnell klar, daß es sich bei der Entsorgung durch Verkauf um keinen Einzelfall handelte. Andere Sonderabfälle wurden ohne Genehmigung transportiert und zwischengelagert, weitere vermischt und verschnitten; und schließlich blieben etliche unauffindbar.Vier der sieben auf Abfuhr und Verwertung von Giftmüll spezialisierten Betriebe hatten das Objekt ihrer Begierde offensichtlich regelmäßig umdeklariert. Sie versprachen, sich zu bessern.
Es bleibt immer ein Rest. Um ihn verschwinden zu lassen, gibt es zahlreiche Sprachstrategien; sie decken sich aber eher selten mit dem Gang der Materie durch die Welt. Wie auch? Die Natur ist auf die menschlichen Aktivitäten und die Stoffe, die aus ihr hervorgegangen sind, nicht vorbereitet. Sie kann sie nicht ohne Reaktionsbildungen aufnehmen, die uns dann Sorge bereiten. Wäre es da nicht ungerecht, den Entsorgern die Sorge zu überlassen und zugleich noch die Art und Weise des Verschwindens vorzuschreiben? Das Verschwinden des Rests ohne Sorge ist vor allem eines aus unserem Bewußtsein, und das schließlich leisten die Entsorger; materiell kann das oft nicht anders als auf dubiose Weise geschehen. Das Betrüblichste an solchen Skandalen ist, daß sie als kriminelle Ausnahme präsentiert werden und uns glauben lassen, ohne sie könnte alles seinen geregelten Gang gehen. Wir sollten uns besser an den Gedanken gewöhnen, daß es neben vermeidbaren Resten auch unvermeidbare gibt.
1. Der unnötige Rest: Haben die Chemiker einen neuen Weg entdeckt, gefährliche Stoffe aus Abfall-Gemischen auszusondern oder sie erwünschte Bindungen eingehen zu lassen, müssen die Verfahrenstechniker her und Anlagen konstruieren, die diesen Weg gangbar machen. Wenn ihre Arbeit getan ist, muß sich ein Hersteller für die Apparatur finden. Es kann sonst zu Fällen kommen wie jenem in Berlin 1989, wo ein entsorgungswilliger Abnehmer von Absorber-Kühlschränken das Ammoniak nicht ablassen konnte, weil er keinen Hersteller für die entsprechenden Adapter fand. Wegen eines winzigen Teils wird das Ganze unverwertbar und stapelt sich auf Halde. Der Hersteller wiederum braucht einen hinreichend großen Kreis von Abnehmern, um die Apparaturen rentabel herstellen zu können. Für die Schaffung dieses Abnehmerkreises ist vor allem der Gesetzgeber zuständig. Man könnte das vereinigte Europa auch als Markterfordernis der Umwelttechnik betrachten. Viele Filter-, Klär- und sonstige Anlagen werden erst in serienmäßige Produktion gehen, wenn hinreichend viele Unternehmen zur Abnahme verpflichtet sind.
2. Der zwangsläufige Rest: Es gibt kein 1oo%iges Recycling, nur Annäherungen. Je vollständiger aber die Stoffe wiederverwandt oder die schon einmal existierenden Dinge wiederhergestellt werden sollen, desto größer wird der Aufwand. Irgendwann übersteigen die Kosten den Nutzen, und alle Energie verausgabte sich, um nur noch einen Teil ihrer selbst wiederzuerlangen. Die Rechnungen, die öffentlich aufgemacht werden, können trügen, selbst wenn sie nicht lügen. Man bekommt eine gefällige Recyclingquote präsentiert, aber den Müll verschwiegen, der bei der Wiederaufarbeitung entsteht. (Sei es beim Papier oder beim Uran.) Wenn sich der Kreis wirklich schließen soll, müßte auch die Rezyklisierung dieser Abfälle eingeschlossen sein. Ob die Rückführung in den Kreis gelingt, könnte also letztlich nur beurteilt werden, wenn man alle Faktoren im Kreislauf der Materie kennen und beachten würde. Man müßte wie die Natur selbst verfahren können, nur als Werkzeuge benutzendes Wesen. Es scheint jedoch eine Ironie auf die Intelligenz des Menschen, daß er immer nur mehr und zugleich weniger schaffen kann als die Natur. Seine Intelligenz zwingt ihn zu ungeheuren Wärmeumwandlungen, mit denen er eine ihm genehme Ordnung unter den Dingen herstellt. Diese Ordnung ist aber – und davon zeugt der Müll – auf einer ständig wachsenden Verschuldung gegründet. Auf der längst nicht mehr verborgenen Rückseite der Dinge wächst mit deren unbeherrschbarem Rest das Chaos.
3. Der zukünftige Rest: Die Grenzen zwischen zwangsläufigem und unnötigem Rest sind offen. Durch eine nicht-marktgesteuerte Prioritätenverlagerung könnten bei entsprechenden Kosten Verfahren zur umweltfreundlicheren Entsorgung bestimmter Reste erzwungen werden. Wie bei der Seeverbrennung von CKWs entscheidet empirisch oft die Kostenfrage. Durch eine dirigistische Politik könnte man hier und dort den Entsorgern die für sie kostengünstigeren Alternativen nehmen. Die Gesellschaft käme allerdings sehr bald in die Situation, daß die Gesamtkosten für ihre Produkte ihren Ertrag überschreiten könnten. Sie müßte auf eine Produktion zur Beseitigung der Dinge umgestellt werden.
Die Altlastensanierung sollte uns eigentlich schon einen Begriff davon vermittelt haben, was eine Produktion für die Vergangenheit ist. Das Entsorgungszeitalter hat schon begonnen. Als Strategie hat es sich aber auf eine Steigerung der Effekte festgelegt. Die Lehre aus der Vergangenheit wird auf die Zukunft abgewälzt. Immer mehr und immer gefährlichere Rückstände werden zurückgelassen. Die Entsorgung ist nur eine Altlastenproduktion für Spätere. Eine Zivilisation ist am Werke, von der man nicht weiß, ob sie nur nicht begriffen hat und noch an das »Noch-Nicht« glaubt, oder ob sie so vom Mißtrauen gegen die Zeit durchsetzt ist, daß sie sich nicht vorstellen kann, danach noch sie selbst zu sein und sich daher zur Skrupellosigkeit berechtigt glaubt.
Aller Unmut über technische Mängel und soziale Ungerechtigkeiten konnte lange mit der Vertröstung auf das große Noch-Nicht gedämpft werden; das war die Epoche des Fortschrittsoptimismus. Die Erfindung wirksamer Methoden zur Unschädlichmachung des Mülls läßt sich in einem zynischen Witz auf dieselbe Art und Weise
der Zukunft zuschieben. Aber die Zukunft wird nicht das Fehlerhafte unserer Zeit in ihrer Perfektion aufheben, sondern durch es determiniert werden. Heute werden die Sachzwänge von morgen geschaffen. Mit dem Entsorgungszeitalter hat die Herrschaft der Vergangenheit begonnen.
Die Toten und der Müll
Noch nachdem er die Schwelle des Todes überschritten hat, hört der Mensch nicht auf, eine giftige Müllspur zu hinterlassen. Das fand der Berliner Umweltsenat 1989 heraus, als er die Umweltverträglichkeit des Krematoriums Wilmersdorf, das über keine Rauchgasfilteranlage verfügt, unter die Lupe nahm. »Die Flugasche aus dem Krematorium weist 2omal soviel Dioxin auf wie die Asche aus der Müllverbrennungsanlage Ruhleben«, erklärte ein Referent des Umweltsenats.
Schuld sind vor allem die sogenannten »Geruchsteine«, die den Toten vom Chemiekonzern Bayer als Beigabe in den Sarg gelegt werden und die bei der Einäscherung Dioxine und Furane entwickeln. Sie bestehen aus Paradichlorbenzol, einem giftigen Produktionsrückstand, den Bayer auf diese Weise bisher elegant entsorgen konnte. Als rosa oder grüne Würfelchen zur Geruchsverbesserung kennt man die giftige Substanz auch aus öffentlichen Toiletten.
Daß der Mensch als Umweltsünder vor seinen Herrgott treten muß, dafür sorgen nicht nur die Bayer-Steinchen, sondern auch Nylonauskleidungen und Nitrolacke der Särge. Die Bestattungsunternehmen versichern zwar, daß der Trend zumindest beim Feuersarg zu naturbelassenen Materialien geht, aber noch betätigen sie sich als Zulieferer von makaberen Giftmüllverbrennungsanlagen. Beim Erdsarg kann von »kaum behandelten« Materialien sowieso keine Rede sein. So wird die Beigabe der Toten zur Vorgabe an die Künftigen: denn deren Grundwasser gefährden sie nun.
Wenn man sich in die Geschichte des Mülls vertieft, könnte man mitunter meinen, daß alle Raffinesse menschlicher Erfindungen nur dazu dient, bereits gelöste Probleme erneut und wenn es sein muß auf höherer Ebene wieder zu stellen, um sie vielleicht doch noch unlösbar zu machen.
Die Bestattung der Leichen wurde schon früh als auch hygienisches Problem erkannt und behandelt; selbst wenn man es noch nicht so nannte. Im alten Rom verbot das Zwölftafelgesetz schon 451 v. Chr. die Bestattung innerhalb der Stadt. So legten die Römer ihre Gräberstraßen vor der Stadt an. Erst in der Blüte-, sprich: Degenerationsphase des Reichs, als es zu seiner Belustigung der Niedermetzelung von Nicht-Römern bedurfte, kam es zu den seuchenbegünstigenden Massengruben auch innerhalb der Stadtmauern. (Was für eine ironische Umkehrung: heute sind es die ehrenwertesten Toten mit den teuersten Särgen, die am giftigsten sind.)
Die mittelalterliche Stadt behielt ihre Toten gleich bei sich. Seit dem Diktum Karls des Großen, der die Feuerbestattung im Jahre 785 für heidnisch erklärt hatte, mußten sie als ganze Leichname zur Verwesung unter die Erde. Man vergrub sie auf dem Boden der Kirche oder in deren nächster Nähe. (Im Niederländischen heißt der Friedhof heute noch kerkhof = Kirchhof.) Nicht nur die spezifische Geruchsentwicklung, sondern auch eine Gefährdung des damals noch durchweg aus Brunnen geholten Trinkwassers konnte Folge dieser christlichen Art sein. Nur während der Pestzeiten im 14. Jahrhundert lagerte man in einigen Städten wie Nürnberg, Straßburg und Braunschweig die Leichen aus der Stadt aus. Erst mit der Reformation wurde es üblich, die Friedhöfe weiter von der Stadtmitte zu entfernen. Im 16. Jahrhundert tauchen die ersten Schriften auf, die eine Wiedereinführung der Feuerbestattung befürworten. Es sollte noch 3oo Jahre dauern, bis es in Deutschland soweit war.
1874 wurden in Gotha wieder die ersten Leichen verbrannt. Bei 1ooo Grad Celsius waren sie in ein und einer Viertelstunde zu Asche verfallen. Das Verfahren beruhte auf einer neuen Gasfeuermethode, die einige Jahre zuvor bei Siemens in Dresden entwickelt worden war. Der erste »Deutsche Feuerbestattungsverein« rühmte die neue Verbrennungsanlage damit, daß »eine Leiche in ein bis zwei Stunden so vollständig verbrennen kann, daß nur noch weiße Asche übrigbleibt und daß beim Verbrennungsvorgang keine Belästigungen durch Rauchgase entstehen«.
Die Evangelische Kirche gab 1898 ihren Segen, die Katholische zog, nachdem Papst Leo XIII. 1886 noch einmal den heidnischen Charakter der Einäscherung unterstrichen hatte, 1964 nach. Das Problem mit der Altlast Mensch schien nun gelöst. Die Weltgesundheitsorganisation lobte 1974 die Feuerbestattung als optimale Methode der Leichenmineralisation. Die Kriterien gleichen denen bei der Giftmüllentsorgung auffällig: statt des Fäulnisprozesses entsteht keimfreie Asche; in der Leiche befindliche Mikroorganismen werden vernichtet; der Platzbedarf (Deponieraum) ist wesentlich geringer als bei der Erdbestattung, außerdem müssen keine Ruhefristen bis zu einer Neubelegung eingehalten werden; der Schutzabstand zwischen Wohnbereich und Friedhof kann verringert werden; und schließlich sind Ascheurnen transportfreundlicher.
Aufstieg und Fall des Joschka F.
Eine Müllographie in 3 Akten
Prolog: Schönberg, Münchhagen, Herfa-Neurode, Gorleben – das sind die Namen, die in die Geschichte eingehen werden wie zuvor Waterloo, Austerlitz und Wounded Knee. Nur daß hier keine Schlachten gegen Heere, Flotten oder Indianer geführt wurden, sondern ein Kampf gegen die Ausscheidungen der Zivilisation. Nicht gegen Barbarenhorden, also das Andere, das von außen kommt, sondern gegen die gänzlich unerwarteten Nebeneffekte des Produktions- und Konsumtionsprozesses, die seine Grundlagen von innen zu vergiften drohen.
Wir haben den Bereich des Recycling verlassen. Aus dem Müll ist alles herausgeklaubt, was irgendwie verwertbar ist. Der Rest ist abgeflammt und verdichtet. Was bleibt, ist recyclingresistent und hochgiftig: Filterstaub, Schlacke, Klärschlämme, Dioxin, PCB, Schwermetalle … Diese Abfälle werden nicht recyclet, sondern »entsorgt«. Dieses Wort sagt zweierlei. Daß sie uns Sorgen bereiten und daß wir uns dieser Sorgen entledigen wollen. Dafür gibt es Profis, die unsere Sorgen ins Meer kippen, unter die Erde oder in Lager bringen. Die Abfallklassen zwei und drei. – Der sonderbare Müll bildet einen fruchtbaren Nährboden für eine Vielzahl neuer Firmen – den Endlagermarkt.
Krisis: Joschka F. übernimmt am 12. 12. 1985 ein Ministeramt, einen Sondermüll-Stau und eine alte Gewohnheit, den anfallenden Müll zu exportieren. Nach Frankreich und in die DDR. Der erste Länder-Minister der Partei, die den Müll auf ihre Fahnen geschrieben hat, tritt an mit der Aufgabe – Zitat Fischer: »daß wir aus den beschissenen Alternativen die am wenigsten beschissene herausfinden müssen«.
1. Akt, Die Hölle: In Hessen fallen jährlich 135 ooo t Sondermüll an. Aber die vorhandenen Deponien sind überfüllt. Neue Deponien brauchen eine Planungs- und Genehmigungszeit von wenigstens 1o Jahren oder werden ganz gekippt wie Mainhaus und Messel. In Messel hatte der Zweckverband Abfallverwertung Süd bereits angefangen, eine 50 Millionen Jahre alte und mit Fossilien angefüllte Senke in eine Mülldeponie zu verwandeln. Die Transporte in die DDR-Deponie Schönberg, die das Grundwasser von Lübeck verseucht, werden im Nov. 85 gerichtlich gestoppt. Auch die französischen Gerichte untersagen die Fortführung des Exports in das lothringische Städtchen Montois. In Hessen wird der Müll-Notstand ausgerufen.
2. Akt, Purgatorium: Während Fischer in der Regel von »ziemlich furchtbaren Sachzwängen« spricht, wagte er in Borken einen großen Wurf. Hier soll auf einer riesigen »Industriebrache« ein interdisziplinäres Forschungszentrum für industrielle Abfallwirtschaft entstehen. Angegliedert an die Gesamthochschule Kassel soll dem Müll hier systematisch zu Leibe gerückt werden. Zum Forschungszentrum gehört das Fegefeuer einer Hochtemperatur-Sondermüllverbrennungsanlage und – das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen – ein »Pilotprojekt Hochsicherheitsdeponie«. Was die Rechte für die gefährliche Kategorie des ausgesonderten Menschenmülls entwickelt hat, lassen die Grünen dem materialen Sondermüll angedeihen – Hochsicherheit. Fischer zu seinem »Jahrhundertprojekt«: »Dann wird in Hessen ein neues Abfall-Zeitalter anbrechen.«
3. Akt, Ausfahrt und Wiederkehr: Der erste Versuch, neue Länder für den Müllexport zu erschließen, fällt noch in die Ära Fischer. Im November 1986 fliegt auf, daß er 1o ooo t dioxinhaltigen Filterstaub in Österreich »entsorgen« wollte. Um das zu ermöglichen, wurde der Müll vorsätzlich falsch deklariert. Von einem Skandal zum nächsten wird deutlich, daß Fischer eine ganz übliche Taktik benutzt hat. Es gibt einen regen Müllverkehr in Europa. Atommüll aus der Bundesrepublik nach Belgien, Giftmüll aus Frankreich in die Bundesrepublik und andersrum und von überall in die DDR.
Die nächste Exportstufe, die verniedlichend »Müll-Tourismus« genannt wird, blieb Fischer erspart. Sie gehört in den
Epilog: An des grünen Ministers Österreich-Abenteuer zeigt sich eine frühkindliche Fort-Da-Beziehung zum Müll. Im hessischen Kleinen wie im Großen der westlichen Industriestaaten befindet sich der Müll auf einer zentrifugalen Bahn. Den ersten Ring um das Zentrum nach der DDR bildet das Meer. Den zweiten die Dritte Welt. Italien hat sich zur Drehscheibe des Giftmüllexports aus ganz Europa entwickelt. Die Zielländer sind Nigeria, Libanon, Tunesien, Kongo, Guinea-Bissau usw. usw. Niemand weiß wo überall wieviel Müll welcher Art schon entsorgt worden ist. Aber wie ein Jojo kommt der Müll zurück. Aus Österreich und seit 1988 auch aus den ehemaligen Kolonialländern.
Semiotik
Wenn das Wort »Endlager« an die Finalität der »Endlösung« gemahnt, so ist das eine vorsätzliche Irreführung. Atommüll wird nur – für seine Zeit kurzfristig – aus dem Verkehr gezogen. Die Atomzeit hat längere Rhythmen als alles, was wir uns unter Verkehr vorstellen können. Damit wird noch eine andere Art des Verschwindens möglich. Der Müll könnte vergessen werden. Dann besteht die Gefahr, daß zukünftige Intelligenzen beim Graben in der Erde zufällig auf ihn stoßen.
Sie könnten aber auch etwas ganz anderes finden. Nach der gleichen Methode wie Atom- und Giftmüll werden in Bergwerksstollen ja auch Kulturschätze versiegelt. Seit der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954) werden Milliarden von Mikrofilmaufnahmen luftdicht und korrosionssicher geendlagert. In der Bundesrepublik sind es jährlich 15 Millionen Aufnahmen, die in das Bergwerk »Barbara« in der Nähe
von Freiburg kommen.
Die Stollen müssen also für alle möglichen Nachfahren – vom Roboter bis zum Halbaffen – so gekennzeichnet werden, daß sie entscheiden können, ob es sich bei ihrem Inhalt um Kultur oder um Müll handelt.
Hier setzt die Semiotik an. Sie befaßt sich damit, wie die soziale Kommunikation mit Hilfe bestimmter Zeichen die scheinbar unüberwindliche Barriere »Zeit« transzendiert. Sie wird gefragt, ob es möglich sei, eine Zeichenbeziehung zu legen zwischen dem, was sich quasi nicht wandelt, dem Atommüll, und dem, was sich beständig wandelt, der menschlichen Kultur und Gesellschaft.
Das US-Energieministerium beauftragte 1980 eine vom Bechtel-Konzern gebildete Arbeitsgruppe zur Verhinderung des Eindringens von Menschen in Atommüll-Endlager (Human Interference Task Force) damit, sich ein System auszudenken, um zukünftige Generationen von diesen Endlagern fernzuhalten. Die relativ willkürliche Zeitvorgabe waren die nächsten 10.000 Jahre. Willkürlich deshalb, weil Plutonium 239 eine Halbwertzeit von 24.390 Jahren hat, Thorium 232 eine von über 10 Milliarden Jahren. Weitere Vorgabe: Das technische Problem, Atommüll 500 bis 1000 Meter unter der Erde so zu versiegeln, daß in dieser Zeit Lecks, geologische Störungen usw. ausgeschlossen sind, sei als gelöst zu betrachten. Die Aufgabe zielte also ausschließlich auf eine Übermittlung des Wissens um die Lage und Gefahr des Atommülls über einen Zeitraum hinweg, den wir nicht einmal rückblickend überschauen. Die ältesten überlieferten Aufzeichnungen, Sumerische Keilschrift-Tafeln, sind nur 5.500 Jahre alt.
Die Tübinger Zeitschrift für Semiotik hat die vermessene Herausforderung aufgenommen und an verschiedene Wissenschaftler in aller Welt weitergegeben, darunter Thomas Sebeok, der auch an der Bechtel-Arbeitsgruppe teilgenommen hat, Stanislaw Lem, Francois Bastide, Paolo Fabbri und Philipp Sonntag. Mit den Vorschlägen, die auf diese müll-semiotische Fragestellung hin eingegangen sind, werde ich mich im folgenden befassen.
Dreierlei muß den künftigen intelligenten Wesen mitgeteilt werden: 1. daß es sich überhaupt um eine Nachricht handelt, die an sie gerichtet ist; 2. daß an einer bestimmten Stelle Stoffe lagern, die für höhere Bioformen tödlich sind, wenn sie sich ihnen ungeschützt aussetzen; 3. spezifische Informationen über die Art der Stoffe, der Einlagerung und ihren Zeitpunkt, da es nicht ausgeschlossen ist, daß mit kommenden Technologien auch Atommüll weiterverarbeitet werden kann.
Das Hauptproblem der Semiotiker besteht darin, daß der Output eines Kanals nie mit seinem Input übereinstimmt. Medien unterscheiden sich in ihrer Störungsanfälligkeit, aber vollständige Rauschfreiheit gibt es nicht. Information ist immer nur Selektion aus einem gegebenen Rauschen. Wie wir gesehen hatten, ist auch Musik nur modulierter Lärm und Literatur ausgewählter Wortmüll. Der Parasit sitzt in jedem System.
Hinzukommt, daß auch Zeichen ihre Halbwertzeiten haben. Der Rauschanteil der stillgestellten Nachricht, also der Informationsmüll, steigt in dem Maße, wie der Code sich verändert, in dem sie verfaßt ist. Die Entropie frißt den Informationsanteil auf bis zur völligen Unverständlichkeit.
Eine Technik zur Verminderung von Transmissionsfehlern ist Redundanz, die in den meisten der Tübinger Vorschläge für notwendig gehalten wird. Also eine breite Streuung von Zeichenträgern mit unterschiedlichen Eigenschaften, die an verschiedenen Stellen lagern. Ebenso eine Bandbreite von ikonisch, indexikalisch und symbolisch kodierten Zeichen. Sie erleichtert eine Übersetzung, auch wenn ein Teil des Codes verlorengegangen ist, wie beim Rosetta-Stein. Außerdem richten sich verschiedene Versionen an unterschiedliche Adressaten. Von »Vorsicht Lebensgefahr!« für den Laien bis zu detaillierter, technisch-chemischer Experten-Information.
Die Palette der vorgeschlagenen Zeichenträger und Medien ist groß. Dazu gehören Monumente, Keramik- und Goldplatten und die trojanischen Satelliten von Lern, die auf einer Erdumlaufbahn einige tausend Jahre lang Informationen auf die Erde senden. Andere Überlegungen gehen davon aus, die Strahlung selbst als Energiequelle für dauerhafte Signalerzeugung einzusetzen. Der Müll signalisierte also selber seine Müllhaftigkeit.
Idealerweise reproduziert sich die Botschaft zusammen mit ihrem Träger selbst. Da das eine Eigenschaft des Lebens ist, denken Bastide und Fabbri über lebende Strahlendetektoren nach. Das könnten z.B. genetisch manipulierte Katzen sein, die auf Radioaktivität mit Hautflecken reagieren. Sie würden die dem Menschen fehlenden Sinnesorgane für Strahlung ersetzen. Sie würden weiterhin Anlaß für spontan entstehende Sprichwörter, Märchen oder Mythen sein, die die Bedeutung dieser Strahlenkatzen im kollektiven Gedächtnis verankern.
Auch Lem schlägt eine biologische Kodierung in der DNS vor. Seine Überlegung ist, daß die Weitergabe der Erbinformation in der Evolution als das Perfekteste angesehen werden darf, »was uns überhaupt bekannt ist, weil ja der DNS-Kode in seinemAlphabet, seiner Struktur und seiner Semantik heute noch derselbe ist wie vor etwa 4 Milliarden Jahren«. Konkrete Entwicklungen in diese Richtungen erwartete er sich von der Gentechnologie. Die Einschreibung des Mülls in den Körper des Adressaten scheint mir die konsequenteste. Nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis.
Ein größeres Problem als das Zeichenmaterial stellt die Art der Codierung dar. Während Pikto- und Ideogramme als quasi-universal, d. h. kulturübergreifend in natürlichen Umständen verankert, angesehen werden, sind symbolische Zeichen äußerst wandlungs anfällig. Ikonische Nachrichten »stehen für« das Bezeichnete, Bilder, Piktogramme, Photos, in narrativer Form auch Comic- Strips. Indexikalische Nachrichten weisen auf das Bezeichnete hin wie Pfeile. Beide sind nicht völlig vom Kontext unabhängig, aber die Umrißzeichnungen der südfranzösischen Höhlenmalerei sind auch nach 8.500 Jahren noch als Menschen und Tiere zu erkennen.
Dagegen beruhen symbolische Nachrichten nicht auf einer Ähnlichkeit zum Bezeichneten, sondern arbiträr auf sozialen Konventionen. Wichtigster symbolischer Code ist die Sprache. Sie erlaubt sehr differenzierte Botschaften, verändert sich aber sehr schnell. Man nimmt für das Englische eine Konstanz von 81% des Grundwortschatzes über den Zeitraum von 1000 Jahren an. In 10.000 Jahren wird es also nur etwa 12% seines jetzigen Basisvokabulars enthalten.
Um die Botschaft dem ständigen Wandel des Codes und des Kontextes anzugleichen, denken die meisten Autoren an eine Kette von Relaisstationen. Vilmos Voigt von der Universität Budapest schlägt konzentrisch angeordnete Warntafeln in zunehmend neueren Sprachformen vor. Jede enthielte in den wichtigsten Welt sprachen neben der Warnung die Meta-Meta-Nachricht, diese Tafel nach einer gewissen Zeit zu übersetzen und eine neue aufzustellen. Ein Leser aus der Zukunft könnte somit teleskopartig in die Geschichte der Sprachen zurückblicken. Dieser Kennzeichnungsvorschlag hat eine unvorstellbare Kontinuität der sozialen Trägerschaft der Transmission zur Voraussetzung. Andere Autoren machen sich Gedanken, wie diese zu erzeugen ist. Sebeok entwirft religiöse Institutionen, eine Atompriesterschaft mit jährlichen Ritualen. Sie würden Mythen initiieren, über heilige Gebiete, die zu meiden sind. Sie würden mit übernatürlichen Vergeltungsmaßnahmen bei Nichtbeachtung drohen und das technische Wissen als geheimes überliefern. David Givens von der University of Washington hält Muster von Dominanz und Unterordnung innerhalb der Spezies für fundamentale Prinzipien der sozialen Ordnung von Wirbeltieren. Mit anderen Worten: Eliten wird es immer geben und die Kommunikation mit der Zukunft wird eine zwischen Gruppen sein, die Macht ausüben.
Ebenfalls in den sozialen Bereich gehört die Anregung von Bastide und Fabbri, daß der Atommüll zahlreiche bekannte Dichter, Novellisten, Musiker, Maler und Bildhauer inspirieren möge. Denn vermutlich werden auch in Zukunft Kunstwerke weitergegeben, erhalten und kopiert werden.
Rückblickend muß festgehalten werden, daß alle Warnungen an die Nachwelt bislang nicht besonders erfolgreich waren. Sie machten im Gegenteil die Menschen neugierig. Die Herrscher von Ägypten, Syrien und Tibet hinterließen an ihren Grabmonumenten Bannflüche gegen diejenigen, die sie schänden würden. Die Geschichte des Grabraubes zeigt, daß alle Versuche, Eindringlinge, zu denen auch heutige Archäologen gehören, mit Mitteln der Kommunikation fernzuhalten, kläglich gescheitert sind. Die Warnung vor der Büchse der Pandora macht sie um so reizvoller.
Die Indianer Nordamerikas waren sehr wohl in der Lage, altes Wissen bis zu uns zu schicken, z.B. Mitteilungen über tabuisierte Gebiete, in denen es Uranvorkommen gibt. Die Warnungen in ihren Prophezeiungen werden als Folklore abgetan. Hier hat das Rauschen die Botschaft fast vollständig zersetzt. Der Parasit, dieses Krümelmonster der Kanäle, hat wieder einmal gesiegt. Und auch unser anderer ständiger Begleiter, der Müll, wird die Oberhand behalten. Vergraben und mit Bannzeichen belegen – welch kindisches Gebaren. Kein ornamentales Gekritzel wird verhindern, daß der Müll wiederkehrt. Nicht einmal eine Gesellschaft, die ihre Institutionen, Mythen, Wissenschaften, die DNS ihrer Lebewesen von Kopf bis Fuß auf Müll einstellt. Das Salz wird ihn ausspucken, Meteore werden ihn freilegen, aus den Meeren wird er wieder aufsteigen. Aber am sichersten wird der Mensch, der noch jede Untat begangen hat, zu der er in der Lage war, sich nicht von Obelisken und Märchen zurückhalten lassen.
Glossar
Abfallmakler: Einer, der paradoxerweise durch seine berufliche Tätigkeit unterstreichen will, daß dem Abfall kein Makel anhaftet; denn »Geld stinkt nicht«.
Abfallschlüssel: Code, mit Hilfe dessen die durch den Menschen kontaminierte Substanz der Erde auf die Datenebene transmaterialisiert und dortselbst katalogisiert werden kann.
Abfallsimulat, hochradioaktiv: Dient zur Simulation des unguten Endes des atomaren Brennstoffkreislaufs. -> Versuchsendlagerung.
Anaerobier: Bewohner gärender Milieus. Wesen, die unter Abschluß von freiem Sauerstoff leben und ihre Energie aus chemischen Abbauprozessen gewinnen.
Auskofferung: Reisefertigmachung erholungsbedürftiger Erde.
Belebtschlamm: Belebt die Stimmung in der Klärungskommission der Wasserfrage.
Biofilrn: Kultstreifen unter Klärwerkern und Altlastensanierern, Regie: Polymer, in den Hauptrollen: Bakterie, Alge und Pilz.
Bodenreinigungscenter: Ähnlich wie im Waschsalon kann man hier seinen Vorgarten in die Trommel werfen. Bei besonders stark verschmutztem Boden (z.B. Dioxin-Flecken) Kochwaschgang bei 1200 Grad, dann spülen, schleudern und trocknen.
Bodensanierungszentrum: Altlastenheim mit Purgatorien und Jungbrunnen-Kuren für industriell strapazierte Erdoberfläche. Berühmter Kurort in Bochum.
Bodenwaschverfahren: Jungbrunnenkur für kontaminierte Erde, nach der das Waschwasser alt aussieht.
BRAM: Kürzel für Brennstoff aus Müll. Wörtlich: Breitenwirksame Rauchgasexperimente Am Menschen.
Entsorgungsinfarkt: Logistisches Leiden der Industriegesellschaft. Durch Verstopfung der Abfallwege mit den eigenen Ausscheidungen zum Absterben gebrachte Gewerbezonen.
Entsorgungspark: Utopische Phantasie aus der Frühphase der Atommüllproduktion. Integrierter Problemkreis aus Urananreicherung, Verbrennung und Vergrabung an ein und demselben Ort.
entsorgungspflichtige Körperschaft: Gemeinde, Stadt- oder Landkreise, denen der Titel der »Müll-Hoheit« verliehen worden ist. Mit der Entsorgungspflicht innerhalb des umgrenzten Territoriums ist ein Beauftragungsrecht verbunden, durch das zunächst der Umsatz der Kegel- und Tennisklubbars belebt wird.
Entsorgungsvorsorge: Nicht nur von Heidegger übersehene Daseinsaufgabe in der modernen Welt. Empirisch noch nicht erprobt.
Ersatzbrennstoffe: Giftige Substanzen, die sich durch Feuer nicht vernichten lassen und die daher selbst zum Feuermachen verwendet werden.
experimentelle Verbrennung: Verfeuerung von Giftstoffen, bis es einer merkt.
Ganzkörperdosis: Maß für das, was der Mensch, vor allem über die Nahrung, im Lauf der Zeit an Becquerel und Mikrosievert auf (sich) nimmt und dann intus hat.
Giftmüllklo: Örtchen, das der moderne Siedlungsstandard in den Wohnbereich integriert hat.
Grauwasser: Ungeklärte Hausabwässer, bei deren Analyse einen ein unerklärliches Grauen befällt.
Haushaltsabfallgemisch: Mischung aus Haushalt und Abfall.
Hintergrundbelastung: Die übliche H. eines Industriestandortes ist die Menge (z. B. 40 Nanogramm Dioxin/kg Boden), die den einen als »Gesundheitsgefährdung völlig ausgeschlossen«, den anderen als »Vorsorgewert« gilt.
Industriebrachen: Natürliches Brachland wird erschlossen, d. h. mit Hilfe von aufwendigen, komplizierten Systemen voll Giftstoffe gepumpt, um industrielles Brachland daraus zu machen, das dann wieder »ur«bar gemacht werden kann … da capo ad nauseam.
Konditionierung: Verfahren, mit dem radioaktiver Müll auf anstrengende Reisen vorbereitet wird. Es besteht hauptsächlich im Eintüten und Beschriften der Abfälle.
Müll-Beseitigung: Seitenwechsel im Schlagabtausch zwischen Mensch und Müll. Was nicht heißt, daß bei diesem Verfahren, außer hohen Beträgen, tatsächlich etwas auf die Seite geschafft würde.
Müll-Fake: Die mißbräuchliche oder zumindest irreführende Erzeugung, Bereitstellung oder Aufforderung zur Bereitstellung von Müll zu anderen als Entsorgungszwecken. Meist gerichtet gegen Institutionen oder Personen, die mit dem M.-F. anrüchig gemacht werden sollen. Nicht zu verwechseln mit -> M.-Simulation.
Müll-Notstand: nötiger Stand der Müllmenge, damit die BSP (Bruttosozialprodukt)-Nutznießer auf ihre Kosten kommen.
Müll-Simulation: 1. Dient der Vortäuschung eines Abfallprofils, um soziologische und geheimdienstliche M.-Analytiker in die Irre zu führen. Soll mit fälschungssicherem M. verunmöglicht werden. 2. Simulate zur Erprobung von Verfahren. 3. Die These, daß Müll kein wirtschaftliches Problem, sondern nur ein Simulationseffekt des Realen ist, es nie eine Vorder- und eine Rückseite, sondern nur eine Oberfläche gab.
NIMBY-Prinzip: »Not in my back yard«. Versuch der Volksweisheit »Der
Abfall fällt nicht weit vom Stamm«, zu entkommen und ihn zu einem PAL (Problem anderer Leute) zu machen.
Preßling: Abfallstoff, der sich durch raumsparendes Verhalten Asylrecht in der Entsorgungsgesellschaft erworben hat.
Renaturierung: Die Zurück-zur-Natur!-Bewegung, die die Zivilisation, d.h. den Müll, dort austreiben will, wo bereits alles zu spät ist.
Scheinrecycling: Wiederaufpolieren des einstmals schönen Scheins der Warenwelt.
Schluckbrunnen: Frühform eines Müllschluckers, der mit unersättlichem Durst die Abwässer z. B. der TNT-Produktion aufnahm. Heute perfektioniert als »Tiefenverpressung«, bei der radioaktives Wasser und flüssige Chemieabfälle bis in 1000 m Tiefe in poröses Gestein ver-preßt werden.
Sero: Das, was nicht mehr roh und unschuldig ist, wird sekundärroh. Ordnet sich in den Trend zur allgemeinen Sekundarisierung, zum Leben nicht aus der Hand in den Mund, sondern aus zweiter und dritter Hand.
Sink-Schwimm-Trennanlage: Stelle, wo der Müll-Misch-Masch baden geht und das Gute im Töpfchen, das Schlechte im Kropf landet.
Sondermüllartige Abfälle: Genauso sonderbar wie echter Killermüll, nur artiger.
Sondermüllberg: Gerade kein Berg, sondern Müll.
Stoffströme: Pendant zum Informationsfluß; unterliegen wie dieser dem Fluch der Entropie, sobald man sie gezielt ausrichten will.
Strahlenspürtrupps: Gruppen von Bioformen, die durch technische Aufrüstung in der Lage sind, radioaktive Strahlung zu verspüren.
Thermische Behandlung: Therapieverfahren für überstrapazierte Materie, bei dem, ähnlich dem chinesischen Moxen, durch Wärme geheilt wird. Allerdings nicht so behutsam. Führt im besten Fall zu verbrannter Erde, die wie Lava von Mikro-Organismen und später höheren Lebensformen besiedelt wird.
Vermeidungsdruck: komplementäres Phänomen zur analen Lust des Müllmachens. Während die Industrie in ebendieser schwelgt, vermeidet es die Politik, Druck auf sie auszuüben.
Versuchsendlagerung: In dem unterirdischen Lager Asse ausprobiertes Verfahren, innerhalb einiger weniger Jahre etwas über das Endgültige herauszubekommen.
Xenobiotika: Stoffe, die der Natur fremd sind, nicht immer biokompatibel; nicht zu verwechseln mit Antibiotika.
Fussnoten
1. Vgl. Habeck-Tropfke, Müll- und Abfalltechnik, Düsseldorf 1985, S. 1.
2. Es handelt sich um einen keineswegs zwangsläufigen und überall wie von selbst vonstatten gehenden Prozeß, wovon die Nomaden in aller Weit, denen der Zugang zu ihren Wasserstellen verstellt wird und die man mit staatlicher Gewalt zwangsansiedelt, noch heute ihre Lieder singen können.
3. Es gibt allerdings kollektive Kulturen, die bereits die Produktion anorganischer Dinge ablehnen. Die australischen Ureinwohner sehen die Landschaft, in der sie leben, als durch mythische Ahnen geschaffen an, der sie nichts hinzuzufügen haben. Sie betrachten alle Dinge, die sich nicht in Bewegung befinden, mit Mißtrauen. Aus ihnen entwickeln sich Geister, die sich gegen ihre Besitzer kehren.
4. Das mosaische Gesetz, das dem noch wandernden Volk gegeben wurde, schreibt vor: » Wenn jemand unter dir ist, der nicht rein ist, weil ihm des Nachts etwas widerfahren ist, der soll hinaus vor das Lager gehen und nicht wieder hineinkommen, bis er vor dem Abend sich mit Wasser gewaschen hat; und wenn die Sonne untergegangen ist, soll er wieder ins Lager gehen. Und du sollst draußen vor dem Lager einen Platz haben, wohin du zur Notdurft hinausgehst. Und du sollst eine Schaufel haben, und wenn du dich draußen setzen willst, sollst du damit graben; und wenn du gesessen hast, sollst du zuscharren, was von dir gegangen ist.« (5. Mose 23/11-14)
5. Tumult 1 (1981), S.84. Adorno brachte den Abfall zwar noch nicht mit Zufall und Unfall zusammen, meinte aber wohl etwas ähnliches, als er in der Minima Moralia schrieb: »… daß Erkenntnis dem sich zuwenden muß, was in solche Dynamik (der Dialektik von Siegen und Niederlagen, dem »Stufengang zum Heil «, die Hg.) nicht einging, am Wege liegenblieb – gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind« (Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 975, S. 200).
6. Das Halteproblem ist offenkundig dem der iterativen Annäherung an einen Gleichgewichtszustand von Müllproduktion und -Entsorgung verwandt.
7. In: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1988.
Pressespiegel
- Wie wir die Nachwelt über unseren Atommüll informieren könnten. Es muss nicht nur ein Endlager her. Die Kommunikation mit Nachfahren oder Lebewesen in 10 000 Jahren ist eine ebenso große Herausforderung. Ein Gastbeitrag von Wolfgang Ehmke, Tagesspiegel 16.07.2021
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